Trans-Europ-Express
Es gab eine Zeit, in der europäisches Kino noch nicht aus dem Geist der Filmförderung entstand, sondern Co-Produktionen noch den Gesetzen des Marktes folgten. Die Gemengelage von Geschäft, Dialog und Diplomatie kannte noch ganz andere Koordinaten. Produzenten waren auf Partner in Nachbarländern angewiesen und viele Regisseurs- sowie Schauspielerkarrieren zirkulierten innerhalb des Kontinents.
Der Romantiker in mir würde gern glauben, dass dies einer grenzüberschreitenden Neugier des Publikums geschuldet war und Stars auch in Nachbarländern große Anziehungskraft besaßen. Das italienische Kino etwa wurde, der Unsitte der Nachsynchronisation sei es gedankt, zu einem Sammelbecken für Darsteller aus aller Herren Länder; vor allem junger, gutaussehender Franzosen wie Alain Delon, Jacques Perrin oder Jean-Louis Trintignant. Dem gerade verstorbenen Pierre Brice beispielsweise war in Frankreich nur eine kleine, in Italien eine mittlere, in Deutschland dagegen eine phänomenale Karriere beschieden. In gewissen Genres, vor allem des Abenteuerfilms, rechnete sich die Kooperation tatsächlich: Wie viele Mantel-und-Degen-Filme habe ich in meiner Kindheit gesehen, die als französisch-italienisch-spanische Co-Produktionen entstanden sind! Gern hätte ich mir auch mehr Krimis und Spionagefilme gewünscht, in denen Interpol als Behörde die gleiche mythische Strahlkraft gewinnt wie FBI und CIA.
Der europäische Autorenfilm der 60er und 70er Jahre wiederum hätte wohl kaum eine solche Blüte erlebt, wenn er nur von einheimischen Produzenten finanziert worden wäre. Dabei ergaben sich oft erstaunliche Allianzen. Ein besonderes Kapitel dieses Kulturtransfers schlägt gerade das Filmkollektiv Frankfurt auf, das bis zum Sonntag (21. Juni) im dortigen Filmmuseum ein Programm mit Arbeiten des Ungarn Miklós Jancsó zeigt, die als Co-Produktionen entstanden: hauptsächlich in Italien, aber auch in Finnland, Israel, und Südkorea. Das ist eine Periode im Werk dieses Meisters der ausgreifenden Plansequenz, die nur wenig bekannt ist und über die ich in meinen eigenen Texten über ihn bisher achtlos hinweggegangen bin ("Nach dem Regiepreis in Cannes für "Roter Psalm" und einer langen Eskapade in Italien geriet seine Karriere aus dem Ruder."); tatsächlich kenne ich aus dieser Zeit nur die verfemte "Große Orgie", seine doppelbödig sinnenfrohe Variation über die Mayerling-Affäre, die 1976 hier zu Lande in einer rufschädigend plumpen Synchronfassung lief. Wohl und Wehe von "Vizi privati, pubbliche virtù" (so der beziehungsreiche Originaltitel, den ich kurzerhand mal mit "Private Laster, öffentliche Tugenden" übersetze) ist es, den Geist einer Zeit zu spiegeln, in der Filmemacher wie Bertulocci, Pasolini oder Walerin Borowczyck Sexualität und Nacktheit als letzte Grenze der Befreiung vermessen wollten. .
Heute Abend läuft in Frankfurt Jancsós Film über die Theaterlegende Luca Ronconi (dem er sich sicherlich auch deshalb verbunden fühlte, weil dessen Arbeit sich ebenfalls in der Bewegung artikuliert), am Wochenende kann das Publikum dieses schillernde Spektrum in Jancsós Werk gleichsam als geballte Ladung entdecken. Als Gast wird unter anderem der Kameramann Janos Kende erwartet, der 14 Filme mit ihm gedreht hat. Dazu erscheint eine Buchpublikation ("Liberty of Cinema") mit ungeheuer aufschlussreichen Werkstattgesprächen, bemerkenswerten Essays, einer Auswahl zeitgenössischer Kritiken sowie prächtigen Bildstrecken.
Initialzündung des Projektes war die (Wieder-) Entdeckung Jancsós während einer Hommage, die das Festival goEast ihm im April 2013 ausrichtete. Konkret wurden die Pläne zu Filmreihe und Publikation ein halbes Jahr vor seinem Tod im Januar 2014. Mithin hat sich das Filmkollektiv die Zeit genommen, um die zweifelsohne komplizierten Rechte- und Materialfragen zu klären. Auch dem Buch ist dieser Vorlauf gut bekommen. Es verrät Sorgfalt, Umsicht und eine genaue Kenntnis seines Gegenstands, dem es sich aus unterschiedlichen Perspektiven nähert und der so in vielen Facetten aufleuchtet. Es ist englischsprachig, einige Originaltexte und Kritiken liegen im Original und einer Übersetzung vor.
Im Vorwort stellt Gary Vanisian ihn als einen eminent politischen Filmemacher vor, dessen Arbeit nicht an Aktualität und Dringlichkeit verloren hat. Die Interviews mit engen Mitarbeitern, darunter die Drehbuchautorin und Regieassistentin Giovanna Gagliardo und eben Janos Kende, habe ich geradezu verschlungen. Von ihnen sind bezeichnende, wesentliche Aussagen über den Regisseur zu lesen, der nicht als Expatriierter, sondern als freier Mann in den Westen reisen konnte. Gagliardo berichtet, dass er mit jedem Film seinen Stil ändern wollte, aber der Stil dann doch stärker war als der Wille. Die Psychologie war seine geringste Sorge, er sei ein "director of structure" gewesen. In seinem Film über die Jugend des Hunnenkönigs Attila, eine Parabel über die Erziehung zum Tyrannen, kommt ein Element ins Spiel, das in Jancsós ungarischen Filmen fehlt: das Meer. Er drehte in wenigen, langen Einstellungen, Cutter hatten in der Regel wenig Arbeit mit seinen Filmen; der große Roberto Pergigniani inspirierte ihn jedoch zu einem etwas anderen Montagestil. Kende schildert die Schwierigkeiten, die Jancsós Choreographien der Ruhelosigkeit einigen Kameraleuten bereiteten: Der berühmte Raoul Coutard kam überhaupt nicht mit ihm zurecht. Jancsós Cutterin und letzte Ehefrau Zsuzsa Csákány erzählt, wie sie sich zusammen gelegentlich Julia-Roberts-Filma ansahen (die lange Einstellung an Ende von "Notting Hill" interessierte ihn besonders), dass er Pasolini und Tarantino mochte, Antonioni als Meister ansah und Fellini weitgehend verachtete. Ja, auch der Schatz an Anekdoten in dem Buch ist unbezahlbar. Dass Jancsó Messer sammelte und eines von Fidel Castro geschenkt bekam, dürfte kaum einem seiner Bewunderer bekannt sein.
Der künstlerische Rang von Jancsós Co-Produktion ist durchaus strittig. Der Essay von Iván Forgács mag eine gewisse Ratlosigkeit ihnen gegenüber nicht verhehlen. Kenner wie Émile Breton und Graham Petrie ordnen sie indes überzeugend in die thematischen und ästhetischen Grundzüge seines Gesamtwerks ein, namentlich seine Auseinandersetzung mit der Frage der Macht und ihrer fehlenden Legitimation. Auch wenn Sie keine Gelegenheit haben sollten, dieses verschollene Kapitel der Filmgeschichte in diesen Tagen in Frankfurt zu besichtigen, lege ich Ihnen das Buch ans Herz. Die Liebe zum Kino hat schließlich auch mit dem Wunsch nach dem vorerst Unerreichbaren zu tun.
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