Kritik zu Morgen das Leben
Als Dokumentarfilmer hatte Alexander Riedel bereits auf sich aufmerksam gemacht. Sein erster Spielfilm erzählt drei Münchner Geschichten von Anpassung und Selbstbehauptung an den Rändern des Kapitalismus
Du schöne Münchner Stadt, sei tausendmal gegrüßt . . . « Ukulelegezupfe, dazu ein zartes Stimmchen – »Isarmärchen« heißt das Lied der Band Coconami, das nicht ganz ernst gemeint sein kann, aber auch nicht unfreundlich klingt. Mit diesem Lied nähert sich der Film der bayerischen Landeshauptstadt an: versponnen und vom Rand aus – das Neubaugebiet, in dem ein Großteil des Filmes spielt, grenzt direkt an die grüne Wiese.
Für die Peripherien der Gesellschaft hat sich Alexander Riedel schon in seinen früheren Dokumentarfilmen interessiert, nun stellt er seinen ersten Spielfilm vor, dem man die Nähe zum Dokumentarischen anzumerken meint. Es sind drei Leben in der Krise, von denen Riedel erzählt. Judith (Judith Al Bakri), alleinerziehende Mutter, sieht man an, dass sie einmal Besseres gewohnt war als die Dreizimmerwohnung am Stadtrand. Früher war sie Stewardess, vielleicht eine Weile verheiratet, jetzt macht sie Telefonmarketing. Jochen (Jochen Strodthoff) »hat gelebt«, wie er es nennt, und wohnt in einer Männerpension in der Nähe des Hauptbahnhofs. Als in sein Zimmer ein zweites Bett gestellt werden soll, beschließt er, Versicherungen zu verkaufen. Ulrike (Ulrike Arnold) schließlich ist gerade von ihrem Freund verlassen worden und hat ihren öden Job beim Sozialamt gekündigt. Während Stück um Stück die Möbel ihres Freundes aus der Wohnung verschwinden, orientiert sie sich auch beruflich neu: Sie will Masseurin werden.
Die Grundstruktur des Films ist ganz künstlich, aber die Details sind so wahrhaftig, dass man das Leben darin gleich wiedererkennt. Genau so stellt man sich die Bevormundung in einem Männerwohnheim vor oder das Brimborium in einer Massage- und Kosmetikschule, in der ein Gesicht »abgereinigt« wird. Und so wie Judith mit den immer gleichen, superpersönlichen Sätzen am Telefon um Kunden wirbt, hat man es selbst schon einmal am Telefon erlebt. Judith, Ulrike und Jochen werden von Schauspielern gespielt, passen ihre Figuren jedoch so präzise in die vorgefundenen Milieus ein, dass man unmöglich sagen kann, was gefunden und was erfunden ist in diesem Film.
Zu dieser produktiven Uneindeutigkeit passt, dass sich auch die Lebensverläufe der drei nicht einfach bewerten lassen. In der Krise werden alle zu Verkäufern ihrer selbst, verkleiden sich und spielen Theater, wie der Lebenskünstler Jochen, der sich die langen Haare abschneiden lässt für die neue Karriere, oder Ulrike, die nach ihrer Ausbildung fernöstlich gestylt mit dem Massagestuhl durch große Firmen tingelt und »Balancing« anbietet – Massagen, die ausgelaugte Arbeitnehmer wieder fit machen für die 60-Stunden-Woche. Die Deformationen im Kapitalismus, die Anforderungen an persönlicher Dehn- und Belastbarkeit, sehen bei Riedel streckenweise regelrecht bizarr aus. Gleichzeitig sind die Sehnsucht seiner Figuren und ihre Kraft, sich noch einmal neu erfinden zu wollen in der Lebensmitte, rührend und bewundernswert.
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