Kritik zu Angèle und Tony
Eigentlich eine ganz normale Liebesgeschichte, aber das normannische Kolorit mit rauer See und großem Seemannsherz setzt neben einer fesselnden neuen Hauptdarstellerin sehr spezielle Reize
Angèle und Tony haben sich durch eine Kleinanzeige kennengelernt. Gefunden wäre das falsche Wort. Zu direkt, zu voreilig. Ihre Bekanntschaft muss erst wachsen, gerade weil sie füreinander bestimmt sind und weil es beide vom ersten »Augen«-Blick an genau wissen. Coup de foudre. Aber zunächst ist Angèle (Clotilde Hesme) allein, vögelt an irgendeiner Hausmauer mit einem Unbekannten, vielleicht einem Straßenhändler, der ihr den Actionman, ein Plastikspielzeug, für ihren Jungen besorgt hat. Der junge Mann sucht schnell wieder das Weite und lässt die gut aussehende junge Frau allein zurück, die sich zu ihrem Date begibt.
Tony (Grégory Gadebois) kommt zu spät. Sie sehen sich nur kurz bei einer Tasse Kaffee, dann muss sie gleich wieder weg. Angeblich zu ihrer Schicht. Aber das ist gelogen. Angèle lässt sich zwar an der Fabrik absetzen, aber nur, um dort ein Fahrrad zu klauen und zu ihrem Kleinen im Kindergarten zu radeln. Der Actionman ist sein Geburtstagsgeschenk. Aber sie ist schon auf und davon, noch ehe der Junge aus der Tür tritt.
Der Film reiht beinahe wortlos kurze Begegnungen aneinander, ohne etwas zu erklären. Angèle lernt man nur über ihr Verhalten kennen, sonst erfährt man nichts über sie. Sie kommt aus dem Nichts, sie ist eine Fremde, die zufällig dort oben an der Küste gestrandet scheint. Sie wirkt eher wie eine Städterin, immer auf dem Sprung, eine Tigerin im Käfig, animalisch, spontan, herausfordernd. Angèle steht unter Druck, das merkt man sofort. Erst später kommt heraus, dass sie gerade aus dem Gefängnis entlassen worden ist. Zwei Jahre war sie weggeschlossen, ihren kleinen Sohn hat sie nie gesehen, er ist bei den Schwiegereltern, ihr Mann ist tot. Fragezeichen über Fragezeichen. Die Antworten muss der Zuschauer sich selber suchen.
Die Rasanz, mit der diese agile junge Frau Mitte zwanzig auf der Leinwand agiert, ihre enorme physische Präsenz, baut Spannung auf. Man muss ihr folgen, sie irgendwie mögen, obwohl sie gar nichts dafür tut. Sie ist einfach da. Sie schwingt sich auf das Fahrrad, fährt los, und da es einen Platten hat, sieht es so aus, als kämpfe sie mit aller Kraft gegen Windmühlen oder gegen die ganze Welt, um sich dort wieder einen Platz zu erobern. Und der massive, bodenständige Tony beobachtet sie nur aus den Augenwinkeln, bietet ihr eine Bleibe und eine Arbeit bei seiner Mutter auf dem Fischmarkt an. Er muss ganz einfach scharf auf sie sein – wie alle andern –, aber er hält sich im Zaum, weil er zurückhaltend, auch weil er der seriöse Typ ist. Er wehrt ihre sexuellen Angebote von Anfang an ab, er ist ein Romantiker, für die Regisseurin »ein Held«, und zieht sich auf sein Boot zurück. Und sie lässt sich – widerstrebend – darauf ein, nicht ohne Berechnung, denn sie will um alles in der Welt ihr Kind zurück und ein neues Leben anfangen. Und Tony, der Fels in der Brandung, wäre einfach der Richtige.
Die Kamera (Claire Mathon) ist der dritte stille Beobachter des Films. Sie kadriert präzise, sucht klare aussagekräftige Bilder, die den Akteuren den Spielraum geben, den sie brauchen. Regisseurin Alix Delaporte, die vom Kamerajournalismus herkommt, arbeitet minimalistisch wie die Brüder Dardenne, nur hat sie hochkarätige Theaterschauspieler an der Hand, die gedrosselt spielen als wären sie Laien. Beide, Hauptdarsteller wie Regisseurin, stammen aus der Gegend, kennen das Fischermilieu und die Existenznöte, die unvermeidbaren Zusammenstöße mit der Polizei. Aber damit wird kein neuer politischer Schauplatz aufgemacht, sondern realistischer Hintergrund gezeigt. Dazu gehört auch, dass Tonys Vater sechs Monate zuvor über Bord gegangen ist. Tony ist beschädigt wie Angèle und träumt, wie sie, von einem anderen Leben.
Als Tony sie eines Tages zu einem Laden mit Brautkleidern fährt, fragt er nur: »Hilft dir das?« Aber es geht um Liebe, nicht ums Geschäft und darum, wie lange die Liebe braucht, um zugelassen, um geglaubt zu werden. Es dauert einen ganzen Spielfilm lang. Erst für das Happy End öffnet sich der Horizont. Drei Personen laufen auf den weiten Strand zu. Ihr Glück strahlt aus allen Knopflöchern. Sie hatte dieses Bild immer im Kopf, sagt die Regisseurin, und wir haben es gespürt, dass dieser Film auf einen neuen Anfang hinsteuert. Nicht auf das Ende zu.
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