Kritik zu Der Letzte der Ungerechten
Claude Lanzmann stellt in seinem neuen Dokumentarfilm Benjamin Murmelstein ins Zentrum, den Rabbiner und Funktionär der jüdischen Gemeinde in Theresienstadt, den er in den 70er Jahren für sein Shoah-Projekt ausführlich interviewt hat
Claude Lanzmanns »Shoah«-Projekt ist längst zu einem Lebenswerk angewachsen. Die über 200 Stunden Filmmaterial, die der französische Dokumentarfilmer seit Mitte der 70er Jahre zusammengetragen hat, sind nicht nur unschätzbar wertvolle Dokumente des größten Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Sie markieren auch den Ausgangspunkt der modernen Holocaust-Forschung. Im Lauf der Jahrzehnte hat das Material sukzessive neue Nuancen im Verständnis der Shoah herausgebildet. In »Der letzte der Ungerechten«, nach »Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr« und »Ein Lebender geht vorbei« die dritte Auskoppelung aus den Interviews, die Lanzmann für »Shoah« geführt hat, geht es um die Frage der schuldhaften Verstrickung der jüdischen Offiziellen in die Vernichtung der europäischen Juden. Im Mittelpunkt des fast vierstündigen Films steht der Wiener Rabbi Benjamin Murmelstein, der als einziger »Judenältester« Theresienstadt überlebt hat und Vertrauter Adolf Eichmanns bei der Deportation von 120 000 Juden an einen »sicheren« Ort gewesen war – während die Nationalsozialisten längst an Plänen für die »Endlösung« arbeiteten. Nach dem Krieg hat er nie einen Fuß auf israelischen Boden gesetzt, weil er befürchtete, dass man ihm wegen Kollaboration mit den Nazis den Prozess machen würde.
Lanzmann hat Murmelstein Mitte der 70er Jahre in Rom ausfindig gemacht und ihn zu mehreren Interviews überredet – als Ersten für sein »Shoah«-Projekt. Vor der Kamera erweist Murmelstein sich als gedankenschneller, scharfsinniger Mann mit einem schlitzohrigen Humor. Für einige aktuelle Aufnahmen kehrt Lanzmann nach Theresienstadt zurück, wo er aus dessen Buch über das »Vorzeige-Ghetto« liest. Diese Aufnahmen verleihen den Zeugnissen Murmelsteins, der an einer Stelle auch seine Abenteuerlust als Motiv nennt, die ihn dazu bewogen hat, sich mit dem Feind einzulassen, um Juden vor den Gaskammern zu bewahren, einen Rahmen. Lanzmann rückt in »Der letzte der Ungerechten« erstmals sogar von seinem Prinzip ab, keine Archivaufnahmen aus den Todeslagern zu zeigen.
Von Eichmann wiederum zeichnet Murmelstein ein gänzlich anderes Bild als Hannah Arendt in ihrem Prozessbericht, wenn er detailreich beschreibt, mit welcher Inbrunst der keineswegs unideologische Eichmann an den Zerstörungen in der Reichskristallnacht partizipierte. Als Lanzmann ihn mit Nachdruck nach seiner eigenen Lust an der Macht befragt, gerät Murmelstein hingegen sichtlich in die Defensive. Skepsis an Murmelsteins Zeugnissen mischen sich mit einer grundsätzlichen Sympathie für den alten Mann. So nennt Lanzmann seinen Film einen Beleg dafür, dass kein Jude je einen Mitgefangenen zu seinem eigenen Vorteil getötet habe. Darüber hinaus zeigt »Der letzte der Ungerechten« aber auch, dass angesichts der systematischen Vernichtung von Millionen von Menschen Fragen der Moral auch unauflösbare Widersprüche nach sich ziehen. »Wenn man heute sagt«, erklärt Murmelstein einmal, »die Menschen in Theresienstadt wären Heilige gewesen, wäre das ein großer Irrtum. Sie waren Märtyrer, aber nicht alle Märtyrer sind Heilige.«
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