Kritik zu Leviathan

© Wild Bunch

Die Tragödie des russischen Automechanikers Kolja von Andrey Zvyagintsev hat in Cannes den Preis für das beste Drehbuch gewonnen, den Golden Globe für den besten ausländischen Film und wurde für den Oscar nominiert

Bewertung: 5
Leserbewertung
3.75
3.8 (Stimmen: 4)

Die Dämmerung, das Ungeschiedene, Unentschiedene, ist in diesem Film nicht nur eine Tageszeit, sondern eine Existenzform. Sie herrscht nicht nur zwischen Tag und Nacht, sondern ­beherrscht auch Mein und Dein. Um das he­rauszufinden, braucht es nur wenige Filmminuten. Spätestens nach der Verkündigung des Berufungsurteils, das den Helden Kolja von seinem traumhaft gelegenen alten Familienbesitz für einen Spottpreis von Entschädigung vertreibt, ist es so weit. Enteignet »zum Wohle des Staates«, heißt es lapidar. Prompt findet sich noch in der Nacht der Nutznießer in Gestalt des volltrunkenen Bürgermeisters am Ort seiner zukünftigen Prachtvilla ein, womit die Interessenlage unmissverständlich geklärt wäre. Da helfen auch nicht der eigens angereiste Freund und Anwalt aus Moskau, der ein Dossier mit Beweismaterial über das kriminelle Vorleben des allmächtigen Dorfvorstehers auf den Amtstisch legt. Hier gehen Korruption und Faustrecht Hand in Hand. Wo Despotie und Willkür herrschen und ein Schlägertrupp die Probleme aus der Welt schafft, widerspricht keiner. Da helfen nur der Wodka, der in Strömen fließt, und der Glaube. Die Frage »Glaubst du an Gott?« hat unter den Dorfbewohnern das »Wie geht es dir?« abgelöst. Eine Art von Running Gag.

Das Ganze spielt in einer bildschönen russischen Landschaft an der arktischen Barentssee, in einem alten Fischerdorf. In der Fischfabrik landen die geköpften Fischleiber auf dem Fließband – nur eine von vielen Metaphern, mit denen Regisseur Andrey Zvya­gintsev seine Filmerzählung bildgewaltig auflädt. Dazu gesellen sich die Gerippe verrotteter Fischerboote oder das Skelett eines gestrandeten Wals, der nicht nur den Titel Leviathan drastisch bebildert, sondern eine ganze Assoziationskette von Thomas Hobbes bis »Moby Dick« bedient. In dieser archaischen Urlandschaft herrscht wie seit Menschengedenken das unbesiegbare, scheinbar zeitlose Seemonster Leviathan, heute ein Moloch mit dem Doppelgesicht Kirche und Staat.

Dass hier nicht nur eine universelle Parabel gemeint ist, auf die sich der Regisseur zuletzt versteift hat, liegt auf der Hand. Wie sehr die geschilderten Zustände mit der Wirklichkeit übereinstimmen, haben sogar die Bewohner des Tausendseelendorfs Teriberka, wo der Film gedreht wurde, nach einer Sondervorführung des Films bestätigt. Dazu bräuchte es nicht einmal das Konterfei Putins, das wahrscheinlich auch in der Realität die Amtsstube ziert. Seine Vorgänger von Lenin bis Gorbatschow sind längst zu Zielscheiben degradiert und leisten beim Volkssport »Schießen«, einem Tarnwort für Ausflug mit Besäufnis, gute Dienste. Aber der aufblitzende Humor hat nicht lange Bestand. Die Fabel, der unaufhaltsame Niedergang des Automechanikers Kolja, ein moderner Hiob, der aber auch alles verliert, Haus, Frau, Freund, zuletzt noch sein Kind, kommt erst dann zu einem Ende, wenn er unschuldig – wir Zuschauer können’s bezeugen – zu fünfzehn Jahren Lagerhaft verurteilt wird. Der Kreislauf des Unrechts schließt sich mit dem nicht minder teilnahmslos vorgetragenen zweiten Berufungsurteil.

Keiner der Beteiligten ist ohne Fehler, das ist die menschliche Seite des Films, was so manchen Kritiker nach der Sichtung in Cannes verunsichert zu haben scheint. Darf man dem Film eine regimekritische Haltung unterstellen, oder relativiert er sich von selbst? Die Bilder sprechen für sich. Wie in alten Zeiten verdämmert das Leben hinter dem Eisernen Vorhang, stellvertretend zieht hier ein rostiges Gefängnistor den Schlussstrich unter einen vorgefassten Urteilsspruch. Für alle anderen spricht der Metropolit in der sonntäglichen Messe das Schlusswort, ein Aufruf zur Wahrheit und zum Schutz der Orthodoxie. Die doppelzüngige Rede eines Verbündeten. Im Licht der Abendsonne formieren sich die schwarzen Limousinen der Kirchgänger in der winterlichen Schneelandschaft zum Sieges-, oder doch zum Trauerzug?

... zum Thema Russisches Kino unter Putin

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