Kritik zu Girlhood

Trailer OmU © Peripher

Céline Sciamma erzählt in ihrem neuen Film von den Mechanismen des Gangwesens aus weiblicher Sicht. Eine 15-Jährige erlebt das Auf und Ab von Selbstermächtigung und Abhängigkeit als Mitglied einer Mädchenbande

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Die 15-jährige Marieme wohnt mit ihrer Familie in einer der Retortenstädte der Pariser Banlieue, wo die Nachkommen aus der Karibik oder aus Afrika zugewanderter Überseefranzosen fast unter sich zwischen überdimensionierten Betonlandschaften leben. Während die alleinerziehende Mutter für den Lebensunterhalt der Familie putzt, kümmert sich Marieme öfter um die beiden kleinen Schwestern. Ihr Bruder spielt zu Hause den Pascha und langt auch mal zu. Als sie wegen mangelhafter Leistungen von der Schule verwiesen wird, landet sie bei einer Clique von drei etwas älteren und coolen Mädels, die mit ihrer charismatischen Anführerin Lady auch den in der Nachbarschaft herumlungernden Jungs Paroli bieten.

Bald läuft Marieme wie ein Kopie von Lady herum und bekommt von dieser den Ehrennamen Vic wie Victoire. Selbstverständlich gibt es Rivalität unter den Mädchen, doch vor allem auch Solidarität und ausgelassene Momente voll scheinbarer Freiheit, wenn sie in einem von erpresstem Geld bezahlten Hotelzimmer mit viel Alkohol und frisch geklauten Kleidern zu Rihannas »Diamonds« auf den Betten tanzen. Doch bald holt die Realität Marieme ein. Denn gegen die Übergriffe und die Macht des großen Bruders zu Hause hilft solche Mädchenpo­wer nichts. Und finanzielle Selbstständigkeit scheint es nur für den Preis neuer Abhängigkeiten von anderen Männern zu geben. Doch Marieme ist taff. Und irgendwann auch zu selbstbewusst, um die Erniedrigungen weiter hinzunehmen.

In vier durch Schwarzfilm und ein musikalisches Thema abgesetzten Kapiteln inszeniert Céline Sciamma verschiedene Momente von Mariemes/Vics Entwicklung, die sich jeweils durch eine andere soziale Situation und einen anderen Habitus voneinander unterscheiden. Die junge Karidja Touré spielt diesen Wandel vom schüchternen Mädchen über die Bitch zur Kämpferin erstaunlich souverän. Regisseurin Sciamma hatte schon in ihren beiden bisherigen Spielfilmen Water Lilies (2007) und Tomboy (2011) mit erfreulich unangepassten Geschichten weiblicher Identitätsfindung begeistert. Auch in Girlhood schafft sie das Kunststück, vom »Frauwerden« zu erzählen, ohne in die abgedroschenen Muster üblicher Initiationsgeschichten und ihrer Weiblichkeitsklischees zu verfallen.

Das Vorstadtmilieu mit seinen schäbigen Sozialbauten ist als Setting für solche Coming-of-Age-Geschichten nicht neu, fast schon spektakulär aber ist das Wie der Inszenierung. Denn Girlhood wurde nicht im für solch straßennahe Themen üblicherweise reservierten nervös naturalistischen Handkamera-Stil gedreht, sondern als präzise choreografiertes Breitwandstück mit malerisch überhöhten Studiokulissen für die Innenszenen und einer opulenten Farbdramaturgie, die besonders die wiederkehrenden Tanzszenen emotional auflädt. Dabei gelingen – auch durch das großartige Spiel aller Darsteller – Momente großer Einsamkeit atmosphärisch ebenso stimmig wie die rauschartig überschwänglichen jugendlichen Allmachtsgefühle beim gemeinsamen Streifzug durch ein Einkaufszentrum.

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