Kritik zu Tarnation

© Arsenal

Jonathan Caouettes autobiografischer Film-Essay

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Es ist lange her, dass ein Film die amerikanische Kritik so begeistert hat wie Jonathan Caouettes Tarnation. In einer bizarren Mischung aus Dokumentation, essayistischem Experimentalfilm und "Underground"-Pop-Movie erzählt der heute 33-jährige Caouette darin die Geschichte seiner durch und durch dysfunktionalen Familie. Seine Mutter etwa wurde auf Betreiben ihrer lower-working-class-Eltern von ihrem zwölften Lebensjahr an ohne plausiblen Grund über Jahre hinweg einer Elektroschock-Therapie unterzogen. Seither ist die Frau ein psychotisches Wrack. Der vaterlose Jonathan selbst lebte von Kindheit an in Pflegefamilien und bei seinen Großeltern. Hier wie dort war er schweren körperlichen und seelischen Misshandlungen ausgesetzt. Mit elf Jahren begann er, sich selbst und seine Familie mit einer Super-8-Kamera zu filmen; später stieg er auf Video um. Aus diesen Aufnahmen geht hervor, dass auch er selbst schon früh unter einer Psychose litt.

Schon bei der Premiere auf dem Sundance Filmfestival schlug Tarnation ein wie eine Bombe. Die Assoziationen der Kritiker reichten von Tolstoi bis Mailer, von Godard bis Welles. Jede Einzelne davon ist reichlich hoch gegriffen, und man kann sich die überschwänglichen Reaktionen eigentlich nur damit erklären, dass Caouettes Film eine höchst willkommene Abwechslung zu dem Mainstream lieferte, den man als Filmkritiker für gewöhnlich auf Festivals und in Pressevorführungen zu sehen bekommt.

In gewisser Weise entzieht sich eine so persönliche Arbeit wie Tarnation zwar der Kritik, da man sie als Teil einer filmischen Selbsttherapie begreifen muss: Gezeigt werden die Begegnung des Regisseurs mit dem bis dahin unbekannten Vater und die Konfrontation mit dem misshandelnden Großvater. Zugleich aber ist Tarnation auch das Werk eines manischen Selbstdarstellers, bei dem man über weite Strecken das Gefühl nicht los wird, dass er ein sehr berechnendes Spiel mit seiner zweifellos erschütternden Familiengeschichte treibt. So führt Caouette seine geistig umnachtete, im Sterben liegende Großmutter ebenso gnadenlos vor wie seine debile Mutter, um sich selbst zum künstlerischen "Phönix aus der white-trash-Asche" zu stilisieren. Nicht umsonst träumt der narzisstische Caouette seit seiner Jugend davon, sein Leben als fantastische Rock-Oper auf der Bühne zu sehen - jetzt hat er sie selbst gedreht, mit den Mitgliedern seiner Familie als Nebenfiguren.

Caouettes als "Underground" gepriesene Schilderung eines Unterschichtlebens in Texas fehlt die inhaltliche Radikalität eines Harmony Korine und die formale Entschiedenheit etwa eines Kenneth Anger. Mit seinen trivialen Anspielungen auf das Konzept der "Familienhölle" (Rosemarys Baby!) und den wenig originellen Schizophrenie-Metaphern (vierfacher Split-Screen! Bild-Spiegelungen!) wirkt Tarnation vielmehr wie das Experiment eines überambitionierten Filmstudenten, der zum ersten Mal mit all den schönen Bildbearbeitungsmöglichkeiten seines iMovie-Programms experimentiert. Als Dokument einer ausgelebten Psychose (denn genau das betreibt Caouette hier letztlich) besitzt Tarnation eine unbestreitbare Kraft. Ein Wegweiser für eine neue Form des Kinos, wie es manche Kritiker formulierten, ist der Film deshalb noch lange nicht.

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