Der inspirierte Zufall

Ich traute meinen Augen. Er war keine Erscheinung. Das war tatsächlich Jean-Pierre Léaud, der da am Eingang der Francois-Truffaut-Ausstellung in der Cinémathèque francaise saß. Der Museumswächter, der meine Karte abriss, hatte wohl einen Stuhl für ihn herbeigeholt. Still saß er in der Ecke, suchte den Blick der Besucher; zweifellos in der Hoffnung, wiedererkannt zu werden. Immerhin ist er eine der Hauptfiguren dieser Lebens- und Werkschau, ist in Filmausschnitten und auf Fotos als kleines Kind, als Heranwachsender und schließlich als Erwachsener mit untilgbar kindlichen Impulsen zu sehen. Dem Antoine-Doinel-Zyklus, in dem man ihm beim Älterwerden zuschauen kann, ist ein ganzer Raum gewidmet. Später ging er festen Schrittes, aber offenbar ohne Ziel durch die Ausstellung.

Er erweckte nicht den Eindruck, als ein Zeuge zu Verfügung zu stehen, sondern vielmehr als ein Phantom aus der Vergangenheit. Diesen Zustand gleichzeitiger Erschöpfung und Nervosität ist mir bei ihm seine einer bizarren Begegnung in Berlin vor zwei Jahren vertraut. Ich sollte ihn interviewen, aber der Gedanke, mehr als zwei Interviews an einem Tag geben zu müssen, überforderte ihn. Gehen lassen wollte er mich freilich auch nicht. So verbrachte ich eine halbe Stunde mit ihm in seinem Hotelzimmer, las ein wenig in einem mitgebrachten Buch, während er sich auf dem Sofa wälzte, auf dem er sich eigentlich ausruhen wollte. Ein neuer Termin sollte verabredet werden, zu dem es aber nie kam. Jetzt war natürlich nicht die richtige Gelegenheit, dies nachzuholen. So betrachtete ich ihn nur kurz, wie er gedanken- und überhaupt ziemlich verloren durch die Ausstellung irrlichterte. Am Vortag hatte ich in einem Vortrag über die Kritiker Truffaut eine Formulierung aus einer seiner Rezensionen gehört, der prächtig zu diesem Augenblick passte: der „inspirierte Zufall“.

Über die schöne, lebhafte Ausstellung werde ich in der Dezember-Ausgabe der Zeitschrift schreiben. An dieser Stelle möchte ich von den zwei Studientagen berichten, die gerade in der Cinémathèque veranstaltet wurden. Serge Toubiana, der Leiter der Institution, der die Ausstellung kuratiert hat (wofür er sich als Co-Autor der großen, auch auf Deutsch erschienenen Truffaut-Biographie empfohlen hat), stellte sie unter das Motto „Francois Truffaut oder das Schreiben in all seinen Formen“. Das ist ein ertragreicher Blickwinkel, unter dem sich das Werk des vor 30 Jahren verstorbenen Regisseurs betrachten lässt und umfasst praktisch all seine Facetten. Toubiana selbst sprach, gemeinsam mit Carole Le Berre (die er uneitel als Verfasserin der besten Truffaut-Monografie vorstellte) über dessen Verhältnis zur Literatur und über die vielfältigen Manifestationen des Schreibakts in seinen Filmen, angefangen mit den beharrlich scheiternden Versuchen des kleinen Antoine Doinel in „Sie küssten und sie schlugen ihn“, Schulaufsätze zu verfassen. Wie die Schrift bei Truffaut zum Teil der Inszenierung wird, ist ein evidentes, gleichwohl spannendes Leitmotiv seines Oeuvres. Das Spektrum der Vorträge und Gesprächsrunden umfasste sein Verhältnis zur Musik und zu seinen Komponisten, die Zusammenarbeit mit Drehbuchautoren, Kameraleuten und Cuttern. Am Ende des ersten Tages lasen der Regisseur Cédric Kahn und die Schauspielerin Sabine Haudepin (die man kurz zuvor noch als Jeanne Moreaus Tochter in „Jules und Jim“ herumtollen sah) aus dem Briefwechsel zwischen Truffaut und Helen Scott, seiner engsten Vertrauten in Amerika, die bei seinem 50-Stunden-Gespräch mit Hitchcock dolmetschte. Das war eine hübsche Idee (auch wenn Kahn seinen Text nicht recht kannte), denn die professionell-freundschaftliche Korrespondenz ist insgeheim auch die sich kokett maskierende Chronik einer unerwiderten Liebe.

Am zweiten Tag stand die Bedeutung Truffauts für zeitgenössische Filmemacher im Zentrum. Die Aktualität, die eine legendäre Figur der Filmgeschichte heute noch besitzen kann, ist eine heikle Frage. Anscheinend nicht für das Publikum im gut gefüllten, großen Kinosaal, das sich aus allen Generationen zusammensetze. Aber für nachfolgende Filmemacher ist es bestimmt wichtiger, sich abzulösen, als sich zu einem Erbe zu bekennen. In einer halbstündigen Montage demonstrierte der Filmkritiker Jean-Marc Lalanne jedoch, wie leicht sich Spuren von Truffauts Themen und Stilfiguren auffinden lassen: nicht nur in Filmen von Maurice Pialat, André Téchiné, Leos Carax und Noemie Lvovsky, sondern auch in „Kill Bill“ (wo Tarantino „Die Braut trug Schwarz“ zitiert) und „Frances Ha“. Das alles waren schlagende Beispiele, die vielleicht aber nur von unbewussten, vagen Erinnerungen künden. Denn auf dem Podium mit jungen, außerhalb Frankreichs kaum bekannten Regisseuren, regten sich viele Vorbehalte. Mit ihm sei es so wie mit den Beatles: Er sei zu zugänglich, zu populär, eine zu große Selbstverständlichkeit. Französische Cinéphile stehen ja seit ewigen Zeiten vor dem Zwiespalt, sich entweder als Godard- oder Truffaut-Anhänger erklären zu müssen. Interessant fand ich die Äußerung des ansonsten sich blasiert-dandyhaft gebenden Serge Bozon, Truffaut sei der Regisseur, dessen Filme schon einem Kind (und nicht erst einem Heranwachsenden) einen Eindruck davon vermitteln, was Autorenschaft im Kino ist. Bozons Co-Autorin Axelle Robert, eine ehemalige Filmkritikerin, die mittlerweile auch selbst Regie führt, zeigte sich fasziniert von der Leichtigkeit der Filme Truffauts. Während französische Filme heute oft schwer an der Forderung nach gesellschaftlicher Relevanz zu tragen hätten, stets einen soziologischen oder psychologischen Mehrwert aufweisen müssten, habe sich Truffaut nur den eigenen Obsessionen verpflichtet gefühlt.

Besonders freute ich mich auf ein Gespräch, das Arnaud Desplechin mit Truffauts Drehbuchautor Jean Gruault führen sollte. Mit Gruault habe ich eines meiner ersten Interviews überhaupt geführt. Ich wollte meine Magisterarbeit über ihn schreiben, woraus dann nichts würde. Er ist im gleichen Jahr wie mein Vater geboren; hätte es den nicht an die Ostfront verschlagen, hätten er und Gruault sich im Zweiten Weltkrieg auf feindlichen Seiten gegenüberstehen können. Aus eigener Erfahrung wusste ich, wie schwer der Erzähler Gruault im Zaum und auf Spur zu halten ist. Kregel plauderte er drauflos, erzählte Anekdoten in Kaskaden und revidierte etliche Legenden. Für das Publikum war das ein treffliches Vergnügen. Desplechin kam kaum zu Wort und amüsierte sich köstlich, als Gruault sich am Ende auch noch bei ihm darüber beklagte.

Als roter Faden zog sich durch alle Gesprächsrunden, wie ungeheuer kritisch Truffaut seine eigenen Filme betrachtete. Er war ein großer Zweifler, hatte Angst, sich selbst und seine Geldgeber zu enttäuschen. Seine Filme sollten ihr Publikum erreichen. Es hätte ihn verblüfft, wie häufig zwei seinerzeit ungeliebte Filme zur Sprache kamen, „Das Geheimnis der falschen Braut“ und „Das grüne Zimmer“. Es wurde in diesen Tagen nicht an einer Hagiographie gearbeitet. Es ging darum, einer Widersprüchlichkeit gerecht zu werden. Ich hatte den Eindruck, sein Werk zerfiele in lauter Fragmente des Scheiterns oder Gelingens, die ich schwer in meinem Kopf zusammensetzen konnte. „Das Leben besteht aus lauter Bruchstücken“, heißt es in „Zwei Mädchen aus Wales“, „die sich nicht zusammenfügen.“

Wenn Sie des Französischen mächtig sind, können Sie die Aufzeichnung der Veranstaltung demnächst auf der Website der Cinémathèque sehen. Vielleicht ergeht es Ihnen wie mir und Sie haben von Truffaut gelernt, das Kino zu lieben und zu entdecken, dass diese Leidenschaft auch eine Öffnung fürs Leben sein kann. Ich habe vieles erfahren, das mir neu war oder das ich vergessen hatte. Ein alter Bekannter erschien für mich in einem anderen Licht. Hier eine kleine Stegreifliste von Dingen, die mir bestimmt im Gedächtnis bleiben werden:

Bei der Arbeit an „Das Leben der Adele H.“ dachten Truffaut und Gruault unablässig an Szenen aus Chaplin-Filmen, jede Sequenz des Films korrespondiert mit Momenten aus dessen Stummfilmen. Gruault war vom fertigen Film ziemlich enttäuscht, weil Truffaut die falschen Drehorte ausgewählt hatte. In Friesland oder Skandinavien hätte er noch Holzhäuser in Küstennähe finden können, wie es sie zu Zeiten Adele Hugos in Guernsey und Kanada gab. Truffaut warf ihm daraufhin vor, ein Authentizitäts-Fetischist zu sein: „Bist Du etwa ins Lager der Viscontianer übergewechselt?“

Axelle Roberts Filmstudenten lehnten Truffaut als Hauptdarsteller von „Das grüne Zimmer“ auf das Heftigste ab: zu zu ausdruckslos, zu langsam, zu neutral; ein Schauspieler, der nicht um Zuneigung für seine Figuren buhlt.

Truffaut hielt es für einen Fehler, eine Komödie im Winter zu drehen - weshalb er Antoine Duhamel, dem Komponidsten von "Tisch und Bett" den Auftrag gab, dem Film mit seiner Musik Wärme zu verleihen.

Die Sehnsucht Antoine Doinels richtet sich auf Anerkennung und Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft; ganz im Gegensatz zu heutigen Filmfiguren, die mit ihr brechen wollen.

 

Wie jeder Regisseur der Nouvelle Vague posierte Truffaut auf Fotos gern mit der Kamera, hatte tatsächlich aber ein nur tastendes Interesse an der Filmtechnik: Ein stolzer Autodidakt, der überzeugt war, als aufmerksamer Zuschauer mehr gelernt zu haben, als er es auf dem traditionellen Weg über die Regieassistent getan hätte.

Da er davon überzeugt war, dass niemand ohne ihn das Material "Jules und Jim" fertig schneiden konnte, fuhr er mit höchstens 30 Stundenkilometern, um sich nicht in Lebensgefahr zu bringen. 

 

 

Er haderte mit der Farbe im Kino. „Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent“ wirkt, als läge ein dunkler Schleier über den kräftigen Farben. Zugleich hatte er Angst vor Schwarztönen; um sie endgültig zu überwinden, drehte er „Auf Liebe und Tod“, der sein letzter Film sein sollte, in Schwarzweiß.

Seinen Kameraleuten schärfte er ein, nie den Himmel zu filmen.

„Die amerikanische Nacht“ zeigt 1973 ein anachronistisches Bild vom Filmemachen. Zur Zeit des New Hollywood, zur Zeit von „Der letzte Tango in Paris“ und „Das Große Fressen“ trauert er einem Kino nach, dem die Nouvelle Vague den Garaus bereitet hatte.

Die größte Angst vorm Scheitern hatte er bei „Die letzte Metro“ („Wer will einen Film über einen Kerl sehen, der sich zwei Stunden in einem Keller verstecken muss?“), der dann sein größter Erfolg wurde.

 

 

 

 
 
 

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