"Eine Figur ist nur die Spitze eines Eisbergs"

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© Prokino »Mr. Turner - Meister des Lichts«

Der Schauspieler Timothy Spall über »Mr. Turner« und seine Zusammenarbeit mit Mike Leigh

 

Mr. Spall, können Sie Sich noch erinnern an Ihre erste Zusammenarbeit mit Mike Leigh vor 32 Jahren? Damals verkörperten Sie in seinem Fernsehfilm »Home, Sweet Home« die Rolle eines Postzustellers.

Das war vor 33 Jahren, daran kann ich mich noch sehr gut erinnern, weil das in demselben Monat war, in dem ich auch die Frau traf, mit der ich mittlerweile seit 33 Jahren verheiratet bin. Als ich ein junger Schauspielschüler war, wurde Mike Leigh von uns sehr bewundert wegen der großartigen Leistungen, die er aus Schauspielern hervorholte. Entsprechend war ich voller Erwartungen, als ich auf dem Weg zu ihm war. Im Gespräch mit ihm bekam ich einen ersten Eindruck davon, wie er gemeinsam mit den Schauspielern eine Figur entwickelt. Und als ich auf dem Heimweg war, bekam ich ein Rollenangebot. Ich hatte also einen meiner Helden getroffen, mochte ihn, hatte eine Rolle erhalten und war verliebt - das war definitiv eine gute Zeit.

Wie schwierig war es damals für Sie, sich auf seine Arbeitsmethode einzustellen, die präzise und langwierige Erschaffung der Figuren und erst daraus die Entwicklung der Geschichte gemeinsam mit den Darstellern?

Ich wusste, dass seine Arbeitsweise sehr einzigartig war, denn jemand, der mit ihm gearbeitet hatte, unterrichte damals bei uns an der RADA, der "Royal Academy of Dramatic Arts". Ich wusste, dass aus Improvisationen die Figuren entstehen, die dann mit anderen Figuren in Beziehung gesetzt werden – und dass das Ganze ein sehr organischer Prozess war. Diese gemeinsame Erfahrung war großartig, ich verstand sie im Lauf der Jahre immer besser, das sieht Mike Leigh wohl auch so, sonst hätte er es nicht insgesamt sieben Mal in diesen 33 Jahren mit mir probiert. Das ist jedes Mal eine tolle Mischung aus Herausforderung und Erleuchtung. Es erfordert auch eine gewisse Chuzpe, das alles zusammenzubringen – man muss also aufrichtig, offen und wahrhaftig sein, damit das funktioniert.

Wie anders ist das, wenn Sie dies in einem historischen Film machen, bei dem Sie zudem noch eine Figur verkörpern, die wirklich gelebt hat, wie zuerst in Ihrer Nebenrolle in Mike Leighs »Topsy-Turvy« und jetzt in der Titelrolle von »Mr. Turner«?

Der Prozess ist derselbe, man erschafft eine Figur aus Beobachtungen von Menschen, die man kennt. Zur gleichen Zeit aber sammelt man Informationen über dese historische Figur, wie sie war, wie sie sich kleidete, was für Einflüsse sie in sich aufnahm. Man liest und diskutiert mit den anderen. Beides bringt man dann zusammen, ich vergleiche das mit einer Hand, die in einen Handschuh passen muss.

Ich vermute, für diesen Film haben Sie zudem viel Zeit in Museen und Gemäldegalerien verbracht?

Ja, vor allem in der Tate Gallery und in der National Gallery, darüber hinaus war ich im Ausland, etwa um in Antwerpen Rubens’ Werke zu studieren, also nicht nur Turners Arbeiten, sondern auch die derjenigen Maler, die ihn beeinflusst haben und die er schätzte. Das war eine Recherche von massivem Ausmaß. Da er sich außerdem gut mit der griechischen Mythologie auskannte, gehörte auch das zu meinem Studienprogramm und nicht zuletzt hatte er als junger Mann eine Architektenausbildung genossen. Man versucht, sich in die Figur und in die Zeit hinein zu versetzen und dann das ganze Wissen, dass man sich erarbeitet hat, in diese Figur einfließen zu lassen. Die Figur ist nur die Spitze eines Eisbergs.

Und wie war es mit Turners persönlicher Seite? Da soll es nicht so viele Informationen geben, Mike Leigh hat mir erzählt, dass er das Verhältnis mit seiner Haushälterin erfunden hat.

Das stimmt. Es ergab sich aus den Improvisationen zwischen Dorothy Atkinson und mir. Wenn man sich die Nähe der beiden und die Dauer ihrer Beziehung anschaut, dann ist das eine gute Möglichkeit. Die Viktorianer sprachen nicht viel über ihr Privatleben und über ihre Emotionen, so weiß man einerseits nicht, was sie dachten, andererseits gibt es Dir die Freiheit, selber etwas zu entwickeln. Auch Menschen, die ihr Leben dem Studium von Turner gewidmet haben, wissen hier nichts Genaues zu sagen. Es gab eine Vorführung, bei der Mike Leigh den Film Turner-Experten und Kuratoren gezeigt hat – nicht ein einziger von ihnen hat mich dafür geohrfeigt oder etwas Negatives gesagt.

Haben Sie je für Sich selber eine Beziehung gesucht zwischen der Art, wie er malt und seinem Verhalten gegenüber anderen Menschen? Gerade gegenüber seiner Ex-Geliebten und den beiden gemeinsamen Töchtern benimmt er sich ja ziemlich rüde.

Turners erste Liebe galt seiner Malerei, er hat nie aufgehört zu arbeiten, seit er alt genug war, einen Pinsel zu halten. Alles andere hat er dem geopfert. Vieles von seinem Genie, das die Spannung zwischen dem Schönen und dem Hässlichen in der Natur aufzeigt, erwächst aus seinen inneren Dämonen – in ihm herrscht ein Überdruck, der sich in seinen Bildern manifestiert.

Am Ende seines Lebens kommuniziert er vielfach nur noch über ein Knurren. Gab es dafür historische Hinweise oder haben Sie und Mike Leigh das selber entwickelt?

Dafür gab es Hinweise, auch dafür, dass andere Menschen oft nicht verstanden, was er sagte, weil er einen sehr starken Londoner Akzent hatte und mit sehr gutturaler Stimme sprach. Er äußert sich aber durchaus gelegentlich noch sehr differenziert über die Malerei, das Knurren ist allerdings das, was den Zuschauern im Gedächtnis bleibt.

Eine Reihe bekannter Schauspieler wie Vincent Price oder Dennis Hopper, auch Regisseure wie Billy Wilder, trugen im Laufe ihres Lebens bemerkenswerte Kunstsammlungen zusammen. Ist das etwas, nachdem Sie soviel Zeit mit William Turner verbracht haben, was Sie für Sich selber in Erwägung ziehen?

Nein, aber ich habe selber viel gemalt. Um Turner adäquat darstellen zu können, habe ich zwei Jahre lang gemalt. Da sind über hundert Bilder entstanden, manche besser, manche schlechter. Eines der letzten Bilder aus dieser Zeit ist die Kopie eines Turner-Gemäldes, Öl auf Leinwand, in der originalen Größe. Das hängt jetzt zu Hause bei mir an der Wand.

Wird die Öffentlichkeit diese Werke einmal zu sehen bekommen?

Ja, es wird eine Ausstellung geben, in einem Gebäude, wo es eine der größten privaten Kunstsammlungen Großbritanniens gibt. Im Januar wird es zudem - in dem Raum, wo Turner malte und wo wir die Filmszene gedreht haben, in der er drei Frauen porträtiert - eine Ausstellung geben, die sowohl Gemälde von mir als auch solche vom Timothy Wright umfasst, des Mannes, der mir beibrachte zu malen. Damit kann man diesen Prozess nachvollziehen, wie ich mich Turner annäherte.

Nicht erst, nachdem Sie beim Filmfestival von Cannes im Mai mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet wurden, ist Hollywood an Ihnen interessiert. Die »Harry Potter«-Filme allerdings wurden vor Ihrer Haustür gedreht.

Das kam mir entgegen, ich habe allerdings auch schon in den USA gedreht, »Verwünscht« in Manhattan und im Central Park, »Vanilla Sky« und Teile von »The Last Samurai« in Hollywood, außerdem »Rockstar« und den Western „Appaloosa“. Aber ich habe nie dort gelebt, I’m a Londoner, born and bred. Allerdings habe ich ein Boot, das gerade in Hamburg vor Anker liegt. Damit habe ich Großbritannien umrundet und plane als nächstes einen Nordsee-Trip mit meiner Frau. Ich bin der Kapitän, bei der stürmischen See ist das nicht unbedingt ein Urlaub, aber so konnte ich nachvollziehen, dass Turner das Meer wirklich verstanden hat.  

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