Kritik zu Wilder Diamant
Die französische Regisseurin Agathe Riedinger widmet ihr Spielfilmdebüt einer ungewöhnlichen Heldin: Liane ist von der Welt des Reality-TV besessen
Man bangt um sie, und ist sich doch ziemlich sicher, dass sie keinen Mann als Beschützer braucht. Man schüttelt den Kopf über sie, bewundert sie aber auch für ihre Energie und ihre Chuzpe, für die Kraft, mit der sie sich gegen ihre aussichtslose Situation aufbäumt, ohne Rückhalt in der Familie, ohne Bildung, ohne Jobperspektive. Sie setzt alles daran, als Star der Reality TV-Show »Magical Island« groß rauszukommen, und als Influencerin den Sprung aus der Gosse der französischen Provinz in den Olymp der Götter von Schönheit, Geld und Macht zu schaffen.
Es gibt gute Gründe, sich über Liane (Malou Khebizi) zu mokieren, mit all den schrillen Signalen, die sie aussendet, mit dicker Schminke, breiten Brauenbalken, aufgespritzten Lippen, falschen Wimpern und Haar Extensions, Blingbling-Ohrgehängen, superlangen Nagelkrallen und ultrahohen Stilettos, die mit Glitzersteinen verziert sind, mit ausladenden Kunstbrüsten, bauchfreien Tops und superkurzen Röcken. Doch Agathe Riedinger begegnet der 19-jährigen Liane in ihrem Regiedebüt (das auf Anhieb den Sprung in den Wettbewerb von Cannes geschafft hat) immer auf Augenhöhe. Ihr gelingt das Kunststück, die Mechanismen einer Selbstoptimierung, die an Selbstverstümmelung, und einer Sexualisierung, die an Prostitution grenzt als gesellschaftlichen Missstand anzuprangern, gleichzeitig aber immer ganz nah an Liane und ihrer Hoffnung auf eine bessere Zukunft und ihrer verzweifelten Angst vor dem endgültigen Abstieg zu bleiben. Mal schaut sie frech und herausfordernd in die Welt, mal schlägt sie vor Wut um sich, dann wieder wirkt sie herzzerreißend verloren. Sie ist eine Kunstfrau und zugleich ganz und gar wahrhaftig, eine Kriegerin und zugleich verletzlich, und der Film ist ein verkapptes Cinderella-Märchen mit der guten Fee vom Reality-TV Casting. Zu den vielen klugen Entscheidungen von Agathe Riedinger gehört, dass man die Reality TV Show-Welten nie direkt zu sehen bekommt, sondern immer nur als Spiegelung in den Gesichtern der jungen Frauen, in ihren Reaktionen auf diese schöne, schreckliche Welt scheinbarer Verheißungen.
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