Kritik zu Architecton

© Neue Visionen Filmverleih

2024
Original-Titel: 
Architecton
Filmstart in Deutschland: 
03.10.2024
L: 
94 Min
FSK: 
keine Beschränkung

Victor Kossakovsky (»Gunda«, »Aquarela«) widmet sich in seinem neuen Essay-Film dem Thema Stein und bringt mit sinnlich aufgeladenen Aufnahmen tatsächlich das Material zum Sprechen

Bewertung: 4
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Die Frage, ob er denn wirklich Dokumentarfilme drehe, begleitet Victor Kossakovsky mindestens schon seit ihm mit dem Familienporträt Die Belows 1992 der internationale Durchbruch gelang. Seine Filme setzen sich über die Genregrenzen von Spiel- und Dokumentarfilm nicht etwa deshalb hinweg, weil er »Spielszenen« einfügt, sondern weil er mit Aufnahmen von Details und Abschweifungen so spielt, dass daraus tatsächlich Poesie entsteht. Spätestens seit »¡Vivan las Antipodas!« (2011) begann sich der in Sankt Petersburg geborene Regisseur, der seit den frühen 2000er Jahren in Berlin lebt, von dem, was herkömmlich Narration genannt wird, weiter zu entfernen. Sein preisgekrönter Film »Gunda« (2020) mag als Ausnahme erscheinen, weil es eine Chronologie der Ereignisse gab, von der Geburt der Ferkel über deren Aufzucht bis zu ihrem Abtransport. Aber tatsächlich verzichtete Kossakovsky auch da auf jede narrative Ausschmückung. Seine Kamera verfolgte in langen Einstellungen, starr und nüchtern, als unbeteiligter Beobachter. Was der abgebildeten Chronik des Alltags einer Schweinemutter umso größeren emotionalen Eindruck verlieh. 

Sein neuer Film »Architecton« wirkt nun wie ein Sequel zu »Aquarela« (2018), der dem Element Wasser gewidmet war und daraus ein anregendes Essay über die Kraft des Elements und Wasser als Lebensraum machte. In »Architecton« geht es um Stein und darum, was sich mit ihm bauen lässt. Wobei Kossakovsky passenderweise als Prolog Aufnahmen der Zerstörung voranstellt: Im Drohnenflug geht es da über ukrainische Plattenbauten, in die russische Angriffe Schneisen der Zerstörung geschlagen haben. Die aufgerissenen Häuser legen ihr Inneres offen, wenn die Kamera die Stockwerke entlangfliegt und den hinterlassenen Tisch mit dem Fernseher, den Kleiderschrank samt Spiegel, die Wäscheleine mit den wehenden Bettlaken zeigt. Es lässt sich nicht so leicht in Worte fassen, was diese Bilder auslösen, aber gleichgültig lassen sie einen nicht.

Später im Film gibt es noch weitere Szenen mit Ruinen: Aufnahmen von antiken Stätten mit erhaltenen und wiederaufgebauten Säulen und Bögen und eingefallene Häuser in einem Erdbebengebiet. Kossakovsky verzichtet auf Beschilderungen, wahrscheinlich weil sie den »Fluss« der Bilder und damit der Gedanken unterbrechen würden. Man wünscht sie sich dennoch an vielen Stellen, weniger zur Einordnung, sondern weil die Aufnahmen neugierig machen: Wo liegt der großartige Steinbruch mit seinen eindrucksvollen Terrassen, wo fährt der überlange, mit staubigen Steinen beladene Zug, der sich durch eine Wüste schlängelt? Neben der von Evgueni Galperine komponierten Filmmusik, die förmlich dem Chor der Steine Töne entlockt, zieht sich die Gestalt des Architekten Michele De Lucchi durch den Film. Er lässt in seinem Garten einen von Steinen umhegten Kreis anlegen, den nach Fertigstellung kein Mensch mehr betreten darf und der auf seine Weise eine Reflexion in Gang setzen soll, die De Lucchi und Kossakovsky in der Schlussszene selbst mit einer etwas hilflosen Diskussion über die Hässlichkeit von Betonbauten beginnen.

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