Kritik zu Das Gullspång Geheimnis
Eine Geschichte von vier Schwestern: Mit einer Verneigung vor David Lynchs »Twin Peaks« geht die schwedische Dokumentarfilmerin Maria Fredriksson einem mysteriösem Familiendrama nach
Die ersten zehn Minuten geben Rätsel auf. Zwei ältere Frauen, die Schwestern Kari und May, treten in einer Küche vor die Kamera. Die Dokumentarfilmerin Maria Fredriksson bittet um mehrere Wiederholungen der Szene, in der die Schwestern von Besichtigung und Kauf einer Wohnung in der schwedischen Kleinstadt Gullspång berichten. Ein Stillleben mit Obst an der Küchenwand habe May geradezu zum Erwerb der Immobilie gezwungen, erzählt sie: »Genau dieses Bild hatte ich gesucht.«
Die Schwestern betrachten das von zwei kleineren Bildern umrahmte Gemälde – Stichwort Dreifaltigkeit – als Offenbarung, göttliche Eingebung und Segnung. Warum, bleibt zunächst offen. Die schwedische Regisseurin Fredriksson stimmt in ihrem Film »Das Gullspång Geheimnis« das Publikum mit der Exposition auf Dinge ein, »die 80 Jahre verborgen lagen«. Eindringliche Musik des Komponisten Jonas Colstrup, der pathosreiche Gesang der Sopranistin Else Torp sowie Zitate von Mahler (1. Sinfonie), Verdi und Puccini unterstreichen den gehobenen Anspruch des dokumentarischen Unternehmens. Es steckt voller Überraschungen.
Die Besitzerin der Wohnung, Olaug Bakkevold Østby, erscheint Kari und May wie das Ebenbild ihrer älteren Schwester Astrid, genannt Lita; sie hatte im Juli 1988 Selbstmord begangen. Die anfängliche, aber unhaltbare These »Sie ist unsere tote Schwester« führt schließlich zu der von einem DNA-Test unterstützten Erkenntnis, dass mit Olaug die Zwillingsschwester Litas vor Kari und May sitzt. 1941 hatten die Eltern die Mädchen offenbar bei der Geburt in Norwegen getrennt, damit sie nicht Opfer von medizinischen Experimenten der Nazi-Besatzer wurden.
Fredriksson nähert sich dem Mysterium mit unterschiedlichen Mitteln. Kari, May und Olaug erscheinen im Frage-Antwort-Modus vor der Kamera. Stimmen aus dem Off und vom Anrufbeantworter ordnen Fakten und Vermutungen ein, private Filmaufnahmen machen die Familienvergangenheit lebendig und ein Netzwerk von Verwandten, Zeitzeugen und Polizei wird befragt. Schritt für Schritt entwickelt sich die Dokumentation zum Drama. Es spiegelt Olaugs ausbrechende Identitätskrise, Phasen der tastenden Annäherung ebenso wie Zweifel, Konflikte und den jähen Bruch.
Fragen verleihen dem Film seine langsam, aber stetig wachsende Spannung. Was geschah wirklich am 29. Juli 1988 mit Lita? War es Selbstmord, Herzversagen oder gar Mord? Warum hatte Lita drei Lebensversicherungen abgeschlossen? Sind Kari, May und Olaug wirklich miteinander verwandt? Maria Fredriksson montiert Motive, die wie geschaffen scheinen für einen Film der Brüder Coen oder von David Lynch. Seiner Serie »Twin Peaks« erweist die Dokumentarfilmerin ihre Reverenz. Immer wieder kommt ein Foto Litas mit einem intensiven, fesselnden Gesichtsausdruck ins Bild. Auf solch einer Aufnahme blickte das »Twin Peaks«-Mordopfer Laura Palmer die Fernsehzuschauer an. Kein Zufall in einem Film, der substanziell von Zufällen lebt.
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