Sieht großartig aus, aber wir müssen es auch hören
Bei keinem Film musste Douglas Sirk so viel Zeit im Schneideraum verbringen wie für »Der letzte Akkord« (Interlude, 1956). Schon die Dreharbeiten zu dem Melo waren eine einzige Strapaze gewesen, denn Sirks Hauptdarsteller Rossano Brazzi war seiner Aufgabe einfach nicht gewachsen.
Er musste einen weltberühmten Dirigenten spielen, hatte aber kein Gespür für Timing. Die Bewegungen seiner Arme folgten nie dem Takt. Um das Publikum davon abzulenken, ließ Sirk ihn ständig durch seine Haare streichen. Sehr ungewöhnlich, vertraute der Regisseur später dem Interviewer Jon Halliday an, ein Italiener ohne Sinn für Musik: "I tell you, my dog had more sense of timing!" Beim Schnitt versuchten Sirk und sein Editor Russel F. Schoengarth dann zu retten, was noch zu retten war. Ich müsste Bettina Böhler mal fragen, was sie vom Rhythmus der Dirigat-Szenen hält.
Heute kehre ich also noch einmal zum Problem der gestischen Selbstverständlichkeit zurück, das mich am Ende des Eintrags vom 7. dieses Monats beschäftigte. Unter Musikern und Musikkennern scheint ein gewisser Konsens zu herrschen, dass Cate Blanchetts Gebärden auf dem Dirigentenpult in »Tár« völlig übertrieben wirken: gefallsüchtig exzessiv. Im Gegenzug finden viele Betrachter Bradley Cooper als Leonard Bernstein ziemlich authentisch. Kunststück, er soll sechs Jahre geübt haben, bevor er »Masestro« in Angriff nahm. Das wären dann ein Jahr pro Minute, die man ihn dirigieren sieht (wiederum Mahler, aber diesmal die Zweite). Joanna Mallwitz ist in »Momentum« natürlich über jeden Zweifel erhaben, ihre animierenden Blicke und mitreißenden Gesten fängt der Dokumentarfilm wunderbar ein. Sie stimmen bereits, wenn sie daheim still für sich dirigiert.
Das ist freilich nur ein Kriterium, an dem sich die Glaubwürdigkeit dieser Berufsdarstellung ermessen lässt. In »Tár« ist die Orchesterarbeit ja nur eine von zahllosen Verantwortungen, die die Titelfigur innehält. Sie ist das internationale Aushängeschild ihres Orchesters, den Berliner Philharmonikern, das dafür bekannt ist, ein Haufen tyrannischer Demokraten zu sein. Nicht nur die Musiker muss sie bei der Stange halten, auch den gesamten bürokratischen Apparat. Recht eigentlich ist »Tár« ein Film über Politik. Todd Field erweckt den Eindruck enormen Insiderwissens, er betrachtet den Beruf gleichsam aus den Kulissen heraus. Das kann faszinierend sein, beispielsweise das Vorspielen hinter einem Paravent, um keinen Bewerber wegen Geschlechts, Rasse oder Alter zu benachteiligen. Beim ersten Sehen fand ich allerdings einige Vorstellungen vom Klassikbetrieb hanebüchen. Konzertprogramme werden, schon aus Gründen der personellen Verfügbarkeit, bereits Monate, ja Jahre im Voraus festgelegt. Dass Tár erst kurz vor der Premiere noch ein zweites Stück auswählen muss (Elgars Cellokonzert, um ihre neue Favoritin prominent herauszustellen), ist schlicht unrealistisch. Bettina, die als Editorin von »Kein Wort« nicht ganz unparteiisch ist, merkte an, Musiker würden nie in einem Apartment wie dem von Tár wohnen - eine Betonwohnung mit einer Akustik, in der nichts, was man dort spielt, richtig klingen kann. Das sind keine kleinlichen Einwände. Allerdings stellt »Tár« auch viele Klischees auf den Kopf, die sich in die filmische Darstellung dieses Metiers seit Jahrzehnten eingeschlichen haben.
Der Dirigent (bislang war er im Kino ja stets männlich) ist eine Figur, die zugleich vage und scharf umrissen ist. Er ist ein Charismatiker, der die große Geste sowie die eigene Bedeutung schätzt. Er kann ein herrschsüchtiger Romantiker sein wie Philip Dorn in der Republic-Produktion »I've always loved you«. Er ist ein Aristokrat, der sich über die Banalität der Welt erhebt (nicht von ungefähr wird das Fach in alten Hollywoodfilmen gern mit britischen Schauspielern besetzt) und sein Umfeld auf die Plätze verweist. Die Darstellungen fallen wesentlich in zwei Kategorien: als eine Witz- oder eine Ehrfurchtsfigur. Der Dirigent bietet sich zur Karikatur an (Louis de Funès als kleiner Tyrann mit Perücke in »Die große Sause«/ »Drei Bruchpiloten in Paris«) und wird als Inbegriff der Exzentrik begriffen (Lambert Wilson in »Wie die Mutter, so die Tochter«). Im Gegenzug gilt der Maestro als Verkörperung des Genie schlechthin, beispielsweise Karajan in den Dokumentarfilmen, die Henri-Georges Clouzot in den 1960ern drehte. Letztlich wird auch dem Titelhelden (Stellan Skarsgard) von »Der Fall Furtwängler« Ehrerbietung zuteil. Nach dem Krieg ist er mit Berufsverbot belegt. Harvey Keitel setzt alles daran, als Offizier der Entnazifizierungsbehörde diesen "fucking band leader" in die Knie zu zwingen. Aber Furtwänglers Liebe zur Musik eignet große Demut. Einmal sieht man ihn während eines Konzerts in einer Kirchenruine im Publikum, und er ist der Einzige, der beim Regen keinen Schirm aufspannt. Die Musiker, die zu seinen Gunsten aussagen, sprechen voller Hochachtung von ihm – wunderbar, wie Armin Rohde ihren Blickkontakt beim Crescendo der „Eroica“ beschreibt. Ich habe keine Stichwortrecherche unternommen, aber neben Willy Birgel in Sirks »Schlussakkord« (einem der ganz großen Kassenerfolge der UFA) finden sich gewiss weitere Beispiele im Kino von Goebbels' Gnaden.
Preston Sturges kombiniert in »Unfaithfully yours« (Die Ungetreue, 1948) beide Kategorien formvollendet. Sein Drehbuch wird durch unterschiedliche Kompositionen strukturiert. Rex Harrison spielt den Dirigenten Sir Alfred de Carter, dem die Neue Welt zu Füßen liegt: "The way you handle Händel!" Er pflegt einen hypnotisch—leichtfüßigen Umgang mit seinem Orchester. Da dies eine Screwball Comedy ist, fühlt er sich von lauter Dummköpfen umgeben, entpuppt sich am Ende aber selbst als einer. Dabei rühmte er sich, über höheres Wissen zu verfügen: "I coudn't understand music as much if I didn't understand human nature!" Vor einem wichtigen Konzert beschleicht ihn unversehens die Eifersucht auf seinen jüngeren Assistenten, der entschieden zu viel Zeit mit seiner ebenfalls jungen Frau verbringt. Während der drei Stücke, die er gibt – von Rossini, Wagner, Tschaikowsky -, ersinnt er verschiedene Methoden, seine Frau zu ermorden (bei Tschaikowsky mit einer Partie Russisches Roulette). Zu Beginn fährt die Kamera jeweils zielstrebig auf sein Auge zu – endlich erfährt man mal, was Dirigenten im Konzertsaal durch den Kopf geht. Das Publikum ist hingerissen von seiner feurigen Interpretation; "I felt quite inspired" räumt er ein. Das Finale ist fast eine Anthologie des Slapstick, er legt die Wohnung in Schutt und Asche, als er seinen Mordplan (die Rossini-Version) umsetzen will: ein tolpatschiger Souverän, der auf menschliches Format zurechtgestutzt wird. Beim Happyend kehrt er jedoch zu seiner vertrauten Großspurigkeit zurück.
Heute könnte der Blick auf diesen Beruf differenzierter, aufgeklärter sein, zumal die aktuelle Welle maßgeblich von einem Dokumentarfilm angestoßen wurde. In »Dirigenten – jede Bewegung zählt« begleitet Götz Schauder sechs Kandidaten eines Wettbewerbs, darunter die fabelhafte Alondra de la Parra, die ich einmal im Konzerthaus Berlin erlebte, bevor dort die Ära Mallwitz begann. In Momentum zeigt diese sich als eine faszinierende, vielschichtige Dokumentarfilmfigur. Man gewinnt einen tiefen Eindruck von ihrer Gestaltungskraft, ihrem Arbeitsethos und Alltag. Allerdings wäre sie ein absolut langweiliger Spielfilmcharakter: zu klar, zu vernünftig, zu sachlich, mit anderen Worten: zu gesund.
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