Kritik zu Gagarin – Einmal schwerelos und zurück

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Die Sozialbausiedlung, in der Youri geboren und aufgewachsen ist, steht kurz vor dem Abriss. Er will sich damit nicht abfinden

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Youri ist 16 Jahre alt und träumt davon, Astronaut zu werden. Dabei hat er seine Nachbarschaft, eine Sozialwohnbausiedlung bei Paris, noch nie verlassen. Hier tummeln sich verschiedene Kulturen, es ist sein Zuhause. Youri gibt sein Bestes, um marode Flure, kaputte Leuchten und den defekten Fahrstuhl instand zu halten. Aber der Hochhauskomplex ist in die Jahre gekommen, die Bewohner*innen sollen umgesiedelt und der Betonkoloss abgerissen werden. Youri will das nicht akzeptieren.

Die Siedlung Cité Gagarine ist nicht nur Kulisse. 1963 wurde der Komplex mit 374 Wohneinheiten von Namensgeber Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall, persönlich eingeweiht. Vor allem Migrant*innen aus dem Maghreb kamen hier unter. Von der ursprünglichen Modernität und Aufbruchstimmung war Anfang der 2000er nichts mehr übrig. Baumängel, Kriminalität und natürlicher Verschleiß hatten sich in das Hochhaus eingeschrieben und ihm einen schlechten Ruf eingebracht. Aber das Regieduo Fanny Liatard und Jérémy Trouilh drehte dort 2014 dokumentarisches Material und verliebte sich sofort in die Dynamik der Nachbarschaft und die Architektur des Betonriesen. Sie lernten die Bewohner*innen kennen und drehten einen Kurzfilm, der zur Basis für ihr Spielfilmdebüt »Gagarin« wurde. Beim Dreh 2019 standen die Wohnungen bereits leer und der Rückbau des Hochhauses war in vollem Gange. 

Dieses Hintergrundwissen ist nicht zwingend notwendig, um den Film zu verstehen. Es erklärt aber den authentischen Charme, mit dem Liatard und Trouilh das Leben im sozialen Brennpunkt schildern und eine der seltenen positiven Geschichten aus Sicht der jungen Banlieue-Generation erzählen. Ohne die Probleme zu verschleiern, zeichnen sie das Bild einer lebendigen Gemeinschaft. Die Menschen und ihre individuellen Geschichten, Hilfsbereitschaft, gemeinsame Aktivitäten und spielende Kinder zeigen eine Welt jenseits von Armutsklischees. 

Die zweite Hälfte rückt den Protagonisten Youri (beeindruckendes Debüt von Alséni Bathily) mehr ins Zentrum. Die Nachbarschaft verschwindet, der Abriss ist geplant, aber Youri bleibt. Wie ein Kosmonaut errichtet er seine eigene Version einer Raumstation, ein autarkes System innerhalb des Hauses, konstruiert aus dem, was andere zurückgelassen haben. Unterstützung erhält er durch die junge Romni Diana (Lyna Khoudri), die als pragmatische Mechanikerin einen Kontrast zum verträumten Youri darstellt. Durch sie und die Astronautin der ISS, deren YouTube-Videos Youri Inspiration und Bauanleitung sind, vermeidet der Film geschickt Geschlechterklischees. Allein die Figur des übrig gebliebenen Dealers wirkt aufgesetzt, als müsse doch auch etwas Negatives repräsentiert werden. Ein weiterer Hauptdarsteller ist das Gebäude selbst. Durch Youris Umbauten wird es zu einem eigenen Organismus. Liebevoll, mit einer an Michel Gondry erinnernden Verspieltheit und gut dosiertem magischen Realismus kreiert der Film so einen märchenhaften Mikrokosmos, wie er nur im Kino zu existieren vermag.

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