Kritik zu Die Unsichtbaren
Faszinierende Doku über die Ermittlerin, die den »Säurefassmörder« fast im Alleingang überführte
Als Anfang vergangenen Jahres die True-Crime-Serie »Gefesselt« bei Amazon Prime anlief, war die Begeisterung groß. So spannend, so drastisch, so amerikanisch, lauteten die Begründungen. Im grellen Scheinwerferlicht des Sechsteilers stand der widerwärtige wie charismatische Serienkiller, der in den 1980er und 1990er Jahren mindestens zwei Frauen in Norddeutschland bestialisch gefoltert und dann versucht hatte, sie in Säurefässern verschwinden zu lassen. Die Serie wollte auch die Frauenfeindlichkeit der damaligen Zeit anprangern, stellte sie dann aber viel mehr aus und machte sie sich gleichsam zunutze. Der Filmemacher Matthias Freier rückt nun in seiner Dokumentation »Die Unsichtbaren« die Ermittlerin Marianne Atzeroth-Freier in den Mittelpunkt, seine Stiefmutter, eine der ersten Frauen in der Hamburger Mordkommission und jene Polizistin, die nahezu im Alleingang und gegen die Widerstände zahlreicher männlicher Kollegen den Säurefassmörder überführte. Und er gibt den Opfern und deren Angehörigen eine Stimme.
Dafür greift Freier auf Interviews zurück, die er mit seiner Stiefmutter geführt und aufgezeichnet hat, verwendet umfangreiches dokumentarisches Material und spricht mit Angehörigen der Opfer sowie mit Wegbegleiterinnen von Atzeroth-Freier. Szenen lässt er zwar nachspielen, legt darüber aber stets Originalaufnahmen oder Interviewsequenzen. Das wirkt manchmal ein wenig wie »XY … ungelöst«, verleiht dem Erzählten aber eine ungeheure Authentizität.
Auch visuell setzt Freier, der bisher vor allem Werbefilme und Musikvideos drehte, immer wieder auf Bilder der 80er und 90er Jahre, nicht nur in den nachgestellten Szenen voller Retrocharme. Wiederkehrendes Element sind Kassettenrekorder, über die Audiodokumente oder eben Sequenzen des von ihm geführten Interviews abgespielt werden. Im Gegensatz zu der Serie liegt sein Fokus nicht auf dem Mörder, der im unmittelbaren Umfeld seiner Opfer lebte, sondern auf den Frauen. Grausame Details zeigt er weder im Bild, noch lässt er sie von seinen Protagonisten ausführen.
»Die Unsichtbaren« ist auch die Emanzipationsgeschichte einer leidenschaftlichen wie gewissenhaften Kommissarin in einer Zeit, in der Frauen im Arbeitsalltag noch gern fürs Kaffeekochen vorgesehen waren. Auch den Opfern wurde kein Gehör geschenkt, wie Freier zeigt. Erinnerungen, Gedanken, Hinweise eines Entführungsopfers, das dem Serienmörder entkam, wurden genauso ignoriert wie die Zweifel der Mutter eines Opfers. Hätte die Polizei rechtzeitig eingegriffen, wäre ihre Tochter möglicherweise noch am Leben. Kumpanei und Männerseilschaften dominierten die Polizeiarbeit.
Als späte Anerkennung für Atzeroth-Freier, die 2017 verstarb, ist »Die Unsichtbaren« unbedingt sehenswert. Zugleich ist der Film ein mahnendes Dokument, wie männliche Ignoranz Leben kosten kann, und die packende Chronik eines außergewöhnlichen Kriminalfalls.
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