Nahaufnahme von Barry Keoghan
»Saltburn« (2023). © Amazon Content Services LLC
Der romantische Liebhaber gehört nicht zu seinem Repertoire. Dafür strahlt Barry Keoghan von den Rändern ins Zentrum der Aufmerksamkeit und stiehlt großen Stars die Show. Seine Stärken liegen in komplexen Charakterporträts und seiner selten und unvermutet hervorblitzenden Schönheit
Dicke Nase, volle Lippen, etwas verquollen wirkende Augen, mittleres Gewicht, mittlere Größe – auf den ersten Blick ist er eher nicht die erste Wahl für die Rolle des jungen Liebhabers. Auf den zweiten wahrscheinlich auch nicht, und bei genauerer Überlegung ist es gut und richtig so, dass Barry Keoghan auf der Leinwand anderes zu tun hat, als romantische Vorstellungen zu bedienen. Beispielsweise Flecken von unklarer Bedeutung im narrativen Geflecht zu verursachen oder ausgefranste Löcher hineinzubrennen, deren Tiefe beim besten Willen nicht zu ermessen ist.
Geboren 1992 und aufgewachsen in Dublin. Anfänge im Schultheater. Frühe, gemeinsam mit Freunden entstandene DIY-Kurzfilme, die sich noch auf Youtube finden, legen Zeugnis ab von einem echten Naturtalent: für alles zu haben und von Kamerascheu keine Spur. Ausbildung an der 2013 gegründeten »Bow Street Academy for Screen Acting« (vormals »The Factory«), Auftritte in Serien und kleinere Rollen in Independent-Filmen. Von den Rändern her allmählich ins Zentrum ausstrahlend und nach eindrücklichen Darbietungen in zwar nicht Haupt-, aber für die Ereignisse doch zentralen Rollen, in »The Killing of a Sacred Deer« (Yorgos Lanthimos, 2017) und »Dunkirk« (Christopher Nolan, 2017), nicht mehr nur Eingeweihten und Fans von irischen Schauspielern ein Begriff. Ohne weiteres in der Lage, selbst neben großen Stars (und irischen Schauspielern) wie Brendan Gleeson und Colin Farrell die Aufmerksamkeit auf sich zu bündeln. 2023 oscarnominiert für seine Darstellung des Dominic Kearney in Martin McDonaghs »The Banshees of Inisherin«, der Apotheose der »Dorftrottel«-Charge als komplexes Charakterporträt.
Keoghans Geheimwaffe ist sein umwerfendes Lächeln – das er sich allerdings eher selten erlaubt; es ist ein im Wortsinn zauberhaft wirkendes Lächeln, denn nicht nur verschwinden dann sekundenkurz seine Augen zur Gänze im vergnügten Gesicht, es blitzt auch, unvermutet, seine ganz erstaunliche Schönheit auf und mit ihr eine ans Herz gehende Unschuld.
Aber man kann ihn sich auch gut als Joker vorstellen. In Matt Reeves' »The Batman« (2022) hat er diesen Inbegriff eines abgründigen Psychopathen bereits gespielt; die längere seiner beiden Szenen hat es dann zwar nicht in den Film geschafft, wurde aber als »Deleted Scene« und unter allgemeinem, ehrfürchtigem Raunen im Internet veröffentlicht. Joker ist da eine Figur, die buchstäblich in der Unschärfe bleibt und deren Konturen sich aufzulösen drohen. Damit ist sowohl eine der wichtigsten Qualitäten von Keoghans Charakteren beschrieben als auch eine der zentralen Strategien seiner Schauspielerei. Der ganze Mann ein Oszillieren zwischen gerichteter Aufmerksamkeit und fluchtbereiter Verunsicherung; darin steckt auch metaphorisches Potenzial.
Barry Keoghan ist ständig in Bewegung, so als würde ein innerer Überschuss an Energie kontinuierlich an die Oberfläche blubbern und den Körper in Schwingungen versetzen: Hände fummeln, Arme fuchteln, im Gesicht jagen sich die Ausdrücke, die Haltung kommt wegen permanenter Schwerpunktverlagerungen kaum einmal zur Ruhe. Ein Gespinst aus fahrigen Gesten, das einerseits ziellos wirkt und mitunter hart an der Grenze zum Gezappel, andererseits droht da augenscheinlich einer, bis zum Bersten gefüllt mit Leben, aus allen Nähten zu platzen. Abgesehen davon, dass Keoghan als Amateurboxer natürlich bestimmte physische Muster und Abläufe beherrschen muss: »Float like a butterfly, sting like a bee.« – »Stop moving so much, Barry!«, lautete hingegen eine der (wenigen) Regieanweisungen, die ihm Yorgos Lanthimos für die Figur des jungen Martin in »Killing of a Sacred Deer« gegeben hat. Der Sohn, der als Rächer seines Vaters über die wohlsituierte Familie des Herzchirurgen Steven Murphy kommt (Colin Farrell braucht einen mächtigen Vollbart, um diesem die nötige Respektabilität zu verleihen). Eine Figur, weit verstörender noch als der Joker. Denn als Martin Steven schließlich eröffnet, was passieren wird, sollte nicht auch er – Auge um Auge – ein Mitglied seiner Familie opfern, dann erscheint das nicht als unglaubwürdige Finte und schon gar nicht kommt es aus heiterem Himmel. Man nimmt es vielmehr als Erklärung für das rätselhafte Geschehen – der Junge ist mit Mächten im Bunde, die größer sind als so ein menschengemachter Gott in Weiß – und realisiert erst hinterher, dass einen dies keinen Deut weiterbringt. Lanthimos' Filme leben von den unerklärlichen Resten, den losen Enden, dem Geheimnis. Und es braucht Schauspieler ohne Bodenhaftung, diese Geschichten mit Leben und Gefühl zu füllen, sie aus der Sphäre eines reinen Planspiels in Parallelrealitäten zu befreien. Barry Keoghan ist so einer.
Wäre es nach den Klischees gegangen (in denen bekanntlich immer ein Trumm Wahrheit liegt), wäre Keoghans Leben wohl anders verlaufen. Im Alter zwischen fünf und zwölf lebte er mit seinem Bruder in 13 verschiedenen Pflegefamilien; die Mutter, die sich wegen ihrer Heroinabhängigkeit nicht um sie kümmern konnte, sahen die Brüder allenfalls am Wochenende. Als sie starb, übernahmen Großmutter und Tante die Fürsorge. Keoghan macht aus dieser Herkunftsgeschichte, die vor allem zu Beginn seiner Laufbahn auf zwischen Sensationslust und Mitleid changierende Neugier traf, kein Hehl. Nur will es einem vor diesem Hintergrund scheinen, als wäre dieser mögliche andere Verlauf vor allem in Keoghans frühen Auftritten und Rollen gebannt. In der in Dublins Unterwelt angesiedelten TV-Serie »Love/Hate« (2010–2014) etwa, in der sein subalternes Gangmitglied Wayne als Cat-Killer einigen Eindruck hinterlässt. In »Norfolk« (Martin Radich, 2015), wo er in die düstere Vergangenheit seines Vaters (Denis Ménochet) verwickelt wird. In »Mammal« (Rebecca Daly, 2016), in dem er die Straßen unsicher macht, bevor ihn eine einsame Frau, die seine Mutter sein könnte, in ihr Bett zieht. Keoghan wirkt in diesen Filmen oft wie der geborene Hooligan, ein gewaltbereiter Subprolet, gefährlich wie ein offenes Messer. Und zeigt dabei doch eine Seele, die noch gerettet werden kann.
Besonders fruchtbar wird diese Ambivalenz in Verbindung mit einer verzögerten Reaktion, die darauf hinzuweisen scheint, dass es sich bei der jeweiligen Figur nicht um die hellste Leuchte im Lampenladen handelt; vgl. hierzu Dominic in »The Banshees of Inisherin«, der uns aber eben auch lehrt, eine instinktive Intelligenz nicht zu unterschätzen. Die Langsamkeit und das Schweigen sind im Kontext Keoghan'scher Schauspielerei immer auch Zeichen genauer Wahrnehmung und gründlichen Durchdenkens. Gut zu beobachten ist das an der Figur des Private Hobson, den in »Black '47« (Lance Daly, 2018) die Suche nach einem Aufrührer durch die irische Hungersnot führt und der die Eindrücke vom Elend sammelt wie Pilze in einem Korb. Bis er erkennt, dass es nunmehr genug ist und er zur Waffe greift. Aber was kann so ein kleiner Soldat schon groß ausrichten gegen den englischen Lord, dem alles Land gehört? Auch der zum Haustiere-Erschießen in die atomverseuchte Zone verpflichtete Pavel in der Mini-Serie »Chernobyl« (Johan Renck, 2019) geht mit dieser Bedächtigkeit durch den Schrecken und wird zum ohnmächtigen Zeugen seines eigenen Niedergangs. Es ist nicht zuletzt sein großes Herz, das ihn umbringt.
Über Dünkirchen habe er nichts gewusst, erzählt Keoghan anlässlich »Dunkirk«, und auch das Buch nicht gelesen, das Nolan seinem Cast empfohlen hatte. Er sei, wie seine Figur, einfach an Bord gesprungen, »in search of an adventure«. Die gleiche Abenteuerlust motiviert offenbar seine Karriereentscheidungen; er arbeitet mit den eigenwilligsten Köpfen des Gegenwartskinos, irrt als Bandit durch den mythischen Wald von David Lowerys »The Green Knight« (2021) und bündelt kosmische Kräfte als Superheld in Chloé Zhaos »Eternals« (2021). Demnächst wird er durch die High-End-Serie »Masters of the Air« fliegen und in »Saltburn« von Emerald Fennell (»Promising Young Woman«) ist er endlich in einer Hauptrolle zu sehen. Er werde sich nützlich machen, sagt George in »Dunkirk« nach seinem Sprung. Wir sind darüber sehr froh.
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