Das Leben macht (keine) Angst

Die Europäische Filmakademie hat gerade das Haus Nr. 23 am Quai du Commerce in Brüssel in ihre Liste der europäischen Filmschätze aufgenommen. Dort steht es nun einträchtig neben dem Bergman Center auf Farö, der Potemkin-Treppe in Kiew, der Tabenrnas- Wüste, dem Kaufhaus Samaritaine in Paris und weiteren Brennpunkten, an denen sich großes Kino zugetragen hat.

Selbstverständlich hängt diese Entscheidung mit dem wundersamen Umstand zusammen, dass Chantal Akermans dort angesiedelter Film über die Hausfrau und Gelegenheitsprostituierte Jeanne Dielman im letzten Jahr den Spitzenplatz der Sight & Sound-Umfrage nach dem größten Film aller Zeiten errang. Man hätte schon vorher darauf kommen können. Eine mythische Aura umweht die Adresse seit einem halben Jahrhundert. Andererseits bin ich gerade der Richtige, mich darüber zu beschweren: Während mehrerer Jahre, in denen ich Brüssel häufig besuchte, kam mir nie in den Sinn, dorthin zu pilgern. Gewiss, Agnès Vardas Geburtshaus in Ixelles habe ich seinerzeit aufgesucht - aber das zählt in diesem Zusammenhang gerade nicht.

Die rührige "Kulturinitiative auf St. Pauli e.V." zeigt in ihrem Kino B-Movie gerade eine Retrospektive mit Filmen von Chantal Akerman. Am kommenden Samstag (25.11.) findet dort ein Werkstattgespräch zum Motiv Raum und Zeit im Werk der Belgierin statt, zu dem Ute Holl von der Universität Basel eingeladen ist - ein kardinales Thema zumal in dem monumental langen "Jeanne Dielman". Anfang des Jahres habe ich mich wieder etwas intensiver mit ihren Tagebuchfilmen beschäftigt, als ich eine Rezension ihres wunderbaren Buches "Meine Mutter lacht" schrieb. Man kann nicht umhin, dem Titel zu misstrauen. Aber manchmal lacht die Auschwitz-Überlebende tatsächlich, trotz des Leids, das sie erfahren hat. Es könnte noch ein Gran der Lebensfreude in diesem Lachen stecken, das ihre Tochter Chantal nicht ergründen kann. Sie erzählt, wie sie die letzten Jahre der Mutter begleitet. Als Kind hat sie deren Schönheit bewundert, nun ist ihr Körper ausgezehrt. Nach einem Sturz und einer Herzoperation ist sie so gebrechlich, dass sie die Wohnung kaum noch verlassen kann. Die Tochter ringt mit ihrer Appetitlosigkeit und wacht bang über ihren Schlaf. Ihr Verhältnis war immer sehr eng. Aber die Tochter führte nicht das Leben, das ihre Eltern sich erhofft hatten. Sie hat nie geheiratet, sondern Frauen geliebt. Sie hat Filme gedreht, die weltweit große Beachtung fanden, jedoch nie kommerzielle Erfolge wurden. Die Enttäuschung darüber steht, ausgesprochen und unausgesprochen, zwischen ihr und der Mutter – die jedoch immer einen festen Platz in Akermans Kino hatte. In »Jeanne Dielman« sind Beobachtungen eingegangen, die sie bei der Hausarbeit der Mutter anstellte. Ihre letzte Kinoarbeit, »No home movie«, die Chantal 2014 vor ihrem Selbstmord realisierte, ist ihr gewidmet.

Eine vertrackt postume, jedoch ungleich verschmitzte Zwiesprache mit der Mutter entspinnt sich in „Camille redouble“ (Camille - verliebt nochmal), dem hübschen Meisterstück filmischer Unternehmungslust von Noémie Lvovsky. Es kam vor gut einem Jahrzehnt in unsere Kinos, vielleicht erinnern Sie sich an den magischen Zeitsprung, der die von der Regisseurin gespielte Titelheldin zurück in ihre Jugend expediert. In den wiedergewonnenen 1980ern kommt sie als Erstes auf die zauberhafte Idee, mit dem Cassettenrecorder die Stimme ihrer Mutter aufzunehmen, deren Timbre von Geborgenheit und Zuversicht sie als Erwachsene so sehr vermisst. Im Rahmen der Französischen Filmwoche in Berlin widmet das Arsenal der Regisseurin ab morgen (24. 11,) eine Werkschau. Lvovsky stellt »Camille redouble« am kommenden Sonntag persönlich vor.

Auch sie hat eine ganz eigene Sensibilität ins französischsprachige Kino eingebracht. In ihrem ersten Langfilm »Vergiss mich« schickt sie 1994 Valeria Bruni-Tedeschi durch alle Verrücktheiten der Liebe. Damals hatte ich den Eindruck, der Film begebe sich ganz ins Schlepptau der temperamentvollen Schauspielerin. Tatsächlich ist ihre Inszenierung eine beherzte und subtile Erkundung des Widerspruchs zwischen flüchtigen und endgültigen Gefühlen. Mit einem Schlag avanciert sie zu einer der wichtigsten Vertreterinnen der "Nouvelle Nouvelle Vague", zu der Freunde und Studienkollegen wie Arnaud Desplechin, Xavier Beauvois und Laetitia Masson gehören.

Ihre Zusammenarbeit mit Bruni-Tedeschi bleibt fortan innig und komplex. Sie fungiert nicht als ihre Muse, nicht einmal als ihr Alter ego, vielmehr ist sie eine kreative Komplizin, an deren Regiearbeiten Lvovsky im Gegenzug regelmäßig als Co-Autorin mitwirkt. Ihre frühen eigenen Filme, darunter »Petites« und »La vie me ne fait pas peur« handeln von den Unwägbarkeiten des Heranwachsens, sind Chroniken der Selbstfindung und entdeckten Verantwortung. Ihre Charaktere werden mit ihr reifer, aber die Energie und Bewegungslust ihrer frühen Heldinnen überträgt sich auf die nun erwachsenen Protagonisten. »Les sentiments« von 2002 (der im Fernsehen wohl »Gefühlsverwirrungen« hieß, aber nie in unsere Kinos kam) ist fast als Musikkomödie angelegt: mit einem Chor, der die Handlung kommentiert, sowie einer ausgeklügelten Choreografie der geschlossenen oder geöffneten Fenster und Türen. Denn zunächst einmal erzählt Lvovsky die Geschichte zweier Häuser. Eine Idylle nachbarschaftlicher Teilhabe entspinnt sich zwischen einem mittelalten und jüngeren Paar, aber die Harmonie des Quartetts zerbricht. Lvovsky inszeniert dies nicht als bittere Sittenstudie über Ehebruch, sondern als Hommage an die Kraft der Gefühle. Sie animiert ihr Darstellerensemble zu großer Ausgelassenheit, auch dem älteren Ehepaar geht es um das Wiederentdecken kindlicher Freude. Als die betrogenen Partner jedoch von der Affäre erfahren, zeigt sich, dass ihr wohltemperiertes Glück alle Beteiligten schlecht gewappnet hat gegen Schmerz und Verlust.

Lvovsky weiß, dass nur die Darsteller einen solchen Bruch im Erzählton tragen können. "Zwischen Komödie und Tragödie" nennt das Arsenal die Werkschau, die leider nur ihre Regiearbeiten umfasst. Die Drehbucharbeiten für Desplechin und andere verraten ihre Handschrift. Seit 2001 tritt sie auch als Schauspielerin in Erscheinung. Erst mochte ich sie in dieser Disziplin nicht besonders, das änderte sich erst allmählich mit ihren Auftritten in »Haus der Sünde« von Bertrand Bonello und »Leb wohl, meine Königin!« von Benoit Jacquot. Inzwischen finde ich sie als Schauspielerin formidabel, zuletzt in Pietro Marcellos »Das Purpursegel« und »Viens, je t' enmène« von Alain Guiraudie, wo sie als Prostituierte eine wunderbar sinnliche Liebesszene hat. Gleichviel, ob vor oder hinter der Kamera – Lvovsky ist ein zuverlässig robustes Erzähltemperament, das gewitzt nach emotionalen Tiefenschichten schürft.

Während in ihren Filmen Wunden vernarben können, bleiben sie bei Chantal Akerman offen. In deren Filmen lässt sich das Schicksal beileibe nicht so leicht überlisten. Sie wäre gewiss auch nie auf die Idee gekommen, einen Film »Das Leben macht mir keine Angst« zu nennen. Die Aufrichtigkeit gegenüber den eigenen Erfahrungen hätte dagegen gesprochen. Anders als Lvovsky hatte sie nicht das Glück, einer Bande anzugehören, sondern war Zeit ihrer Karriere eine Einzelkämpferin.  Die manisch-depressive Störung, an der Akerman litt, hat sich in ihr Werk eingeschrieben. Es ist rissig, wird heimgesucht von der Auseinandersetzung mit ihrer jüdischen Identität. Nichts scheint gefestigt in ihrem filmischen Kosmos, die Stimmungen schwanken, kein Gefühl, keine Reaktion oder Geste hat Bestand. Dem steht eine große formale Strenge entgegen, die sich meist in der assoziativen Montage lang andauernder Einstellungen artikuliert. Akerman verstand sich ebenfalls auf den Wechsel der Tonfalls; ihre Komödien (darunter auch eine musikalische!) werden chronisch unterschätzt.

 

Meinung zum Thema

Kommentare

Schöner Verschrieb: Selbstword anstatt Selbstmord!

Herzliche Grüsse an die erwähnte Ute Holl!!

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