Geborgte Zeit
Als ich diesen ausgesprochen Herbstfilm zum ersten Mal sah, vermittelte er mir ein Gefühl von Dringlichkeit, das mich verblüffte. Es entsprang nicht seinem Tempo, wohl aber seinem Blick. »In Zeiten des abnehmenden Lichts« will ganz schnell noch einmal festhalten, wie es einst aussah und sich anfühlte.
Dieser Eindruck stellte sich erneut ein, als ich ihn in der letzten Woche noch einmal auf 3SAT sah (wo er in der Mediathek noch bis zum 6. 10. abrufbar ist). Er hatte also auch im Fernsehen noch Bestand und verdankte sich nicht nur der großen Leinwand. Den Thementag, mit dem der Sender heute den Tag der Deutschen Einheit begeht, hätte er zweifellos aufgewertet. Andererseits auch wieder nicht, denn die "Deutschen Geschichten", die dort laufen, sind allesamt Fernsehware, da ist ein mittlerer Kinofilm doch noch etwas anderes. Der Film, den Wolfgang Kohlhaase geschrieben und Matti Geschonneck inszeniert hat, adaptiert nur einen Teil des gleichnamigen, episch ausgreifenden Romans von Eugen Ruge. Er konzentriert sich auf einen Tag, den 90. Geburtstag des Patriarchen Wilhelm Powileit (Bruno Ganz). In wenigen Stunden verdichtet er die Gegensätze und Konflikte der Generationen und erzählt vom letzten Herbst der DDR.
Allerdings hat der Film zwei Prologe. Er fängt mit stimmungsvollen Impressionen einer Pastorale der Erntezeit an. Die sowjetischen Militärfahrzeuge und Stacheldrahtzäune deutete ich damals als Bilder aus der Besatzungszone (Kunststück, als Westler), der Auftakt spielt jedoch in einem fiktiven Flecken in der Sowjetunion, Slawa. Der zweite Prolog spielt sodann in Ostberlin. Der Erzähler Kurt Umnitzer (Sylvester Groth) sucht seinen entfremdeten Sohn Sascha (Alexander Fehling) auf, um ihn an den bevorstehenden Geburtstag des Großvaters zu erinnern. Sascha sagt ihm nicht, dass er am nächsten Tag in den Westen fliehen will. In dieser Sequenz stellte sich für mich besagter Eindruck ein, denn ich nun lieber hastige Nostalgie nennen will. Denn die Szenen spielen, ohne dramaturgische Not, an Außenschauplätzen. Der Vater blickt an den Fassaden eines Hinterhofs empor, später marschiert er mit seinem Sohn zu einer Imbisshalle, die in den Katakomben der U-Bahn liegt, schließlich fährt er im Taxi durch die nächtliche Hauptstadt der DDR. Diese Atmosphäre kann der Film 2017 natürlich nicht mehr festhalten, er muss sie rekonstruieren, muss geeignete Drehorte finden, was in Berlin nicht ganz so schwer ist. Gleichviel, diese unbedingt retrospektive Schaulust faszinierte mich beim ersten und zweiten Sehen.
Später kann der Film sie in den Interieurs, in denen er sich weitgehend zuträgt, aufrechterhalten. Sie sind sehr präzise assembliert, verlassen sich nicht auf das Klischee der Brauntöne, die in »Das Leben der Anderen« als authentisch verkauft wurden. Das schrille Telefonklingeln in Kurts Wohnung gehört zu diesem Detailreichtum. »In Zeiten des abnehmenden Lichts« gibt sich als ein diskreter Ausstattungsfilm, denn er hat ja eine Menge Handlung zu erzählen. Aber auch diese ist zuallererst Stimmung. Kohlhaase und Geschonneck zeigen ein Land, das in den letzten Zügen liegt. Sie erinnern sich an die Agonie, die in ihrer einstigen Heimat herrscht. Auf den Gesichtern der Darsteller, in ihren Stimmen und Gebärden werden die Schleifspuren der Resignation und Lethargie kenntlich. Der 90. Geburtstag, an dem der Jubilar einen späten Orden erhält, wird das letzte Hurra sein.
Dass der Film sich auf diese wenigen Stunden beschränkt, bestimmt über sein Wohl und Wehe: Alles trägt metaphorische Last; erst recht der mit dem Buffet gedeckte Tisch, der später tragikomisch in sich zusammenbricht. In seinem Hauptteil, dem Aufmarsch der Gratulanten, will der Film satirisch sein. Die stocksteifen Funktionäre sind mit staubiger Ironie gezeichnet, was bezeichnend oder erheiternd an einem Abschnittsbevollmächtigten sein soll, der vor einer unweigerlich verschlossenen Toilettentür steht, erschließt sich mir nicht. Die Geschichte mit dem Brie, der in Brandenburg heimisch gemacht werden soll ("Ostkäse, der wie Westkäse schmeckt"), ist wunderbar trocken gespielt.
»In Zeiten des abnehmenden Lichts« ist kein großer Kohlhaase. Aber manchmal spürt man, dass er es hätte werden können - etwa in dem Moment, als Kurt seiner russischen Schwiegermutter klar machen will, dass ihr Enkel aus der Republik geflohen ist. "Er ist im Westen." - "In Amerika?" - "In Westdeutschland." - „Das ist Amerika." der Dialog ist noch ganz aus dem Inneren dieser Gesellschaft gedacht, die untergehen wird, aber in der noch mächtige Verharrungskräfte existieren. Besonders mag ich aber auch Yevgeniya Dodina, die ihre Tochter spielt, Kurts heillos trunksüchtige Frau, die der Wahrheit furchtlos ins Auge schaut. Wann immer sie auftritt, erlöst sie den Film für einen Moment von seinem Deutsch sein.
Das wiederum ist nicht die Aufgabe des Schweizers Bruno Ganz. Er spielt den altgedienten Kommunisten, Widerstandskämpfer und verdienten Brigadeleiter als Griesgram, der mit seiner Demenz kämpft, aber erbittert an den alten Überzeugungen festhält. Mitunter dachte ich, es geniere Ganz, einen verdrossenen Stalinisten zu verkörpern und er würde ihm viel lieber eine positivere, korrektere Widerspenstigkeit geben. Aber dann hellen sich seine müden Augen plötzlich wieder auf, wenn ihm andere Unentwegte gratulieren; als die Delegation seiner alten Brigade ihn ehrt, ist Wilhelm Powileit den Tränen nahe. Ganz ist neben Hildegard Schmahl, die seine Ehefrau spielt, einer der ganz wenigen Darsteller, die nicht in der DDR aufgewachsen und groß geworden sind. Diese Besetzungsstrategie ist einerseits pietätvoll und zugleich künstlerisch überzeugend. Sylvester Groth ist so hervorragend, dass man sich wünscht, das Team hätte mit ihm ein Prequel oder Sequel gedreht. Reich und bewegt genug ist die Geschichte ja, die Ruge im Roman erzählt.
Beim Wiedersehen hat mich ein eher beiläufiges Thema intrigiert, die Untreue. Man bekommt rasch mit, dass die Männer in dieser Familie oft fremdgegangen sind und es nach wie vor tun. Wenn Wilhelm seiner ergebenen Haushälterin (Gabriela Maria Schmeide ist exzellent) einen Geldschein ins Dekolleté steckt und sein Haupt für einen Augenblick an ihre Brust lehnt, erzählt das Jahrzehnte. Die innige Verbindung, die zwischen Kurt und seiner nun verlassenen Schwiegertochter besteht, teilt sich in wenigen, verschwiegenen Blicken mit. Sascha, der in der Abenddämmerung der DDR 'rübergemacht hat, hinterlässt seiner Familie eine sybillinische Botschaft: "Der Morgen ist klüger als der Abend." Er brach wenige Wochen später an, am 9. November.
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