Venedig: Feministischer Frankenstein
»Poor Things« (2023). © Walt Disney
Yorgos Lanthimos hat es wieder getan: Er hat einen so lustigen wie verstörend-schönen Film gemacht, in dem er an den Fassaden unseres Zusammenlebens kratzt. »Poor Things« ist der künstlerisch ambitionierteste und bisher preisverdächtigste Film im Wettbewerb.
Ein bisschen scheint sich hier ein Kreis zu schließen. Erzählte der Grieche in »Dogtooth«, seinem Durchbruch auf dem Filmparkett, von Eltern, die ihre Kinder mit falschem Weltwissen erziehen und hermetisch von der Außenwelt abschotten, zeigt »Poor Things nun, wie die Welt auf ein zuvor abgeschottetes »Monster« hereinbricht und reagiert.
Monster allerdings weckt falsche Assoziationen, denn die von Emma Stone grandios körperperformativ gespielte Bella sieht gewöhnlich aus, nur die Narbe am Nacken verrät, dass ein anderes als das ursprüngliche Gehirn in ihrem Kopf ist (es ist, soviel sei verraten, das Gehirn eines Kindes). Die Frau wurde von Dr. Godwin Baxter (ebenfalls grandios: Willem Dafoe), einem gesichtsvernarbten Anatomie-Professor mit Hang zu verstörenden Körperexperimenten, nach einem Selbstmord aufgelesen und neu, nun ja: zusammengeschraubt.
Die beiden leben in einem herrschaftlichen Haus in London, in dem Hühner mit Schweineköpfen herumflitzen und der Professor seine Gase, weil sein eigener Vater an ihm herumgedoktert hat – »Empirie anstatt Emotionen!« – in Seifenblasen heraus rülpst. Lanthimos etabliert mit unkonventionellen Einstellungen, Fisheye-Optik, einem zwischen Dissonanz und Harmonie changierenden Score und einem surrealen, teils retrofuturistisch anmutendem Setdesign eine ganz und gar eigene Welt voll irritierender Schönheit.
Zu Filmbeginn humpelt Bella in infantiler Manier durch das Haus, ist impulsiv und kann kaum reden. »Ihre mentale Entwicklung kommt noch nicht mit der körperlichen mit« stellt der von Godwin eingestellte Medizinstudent Max McCandless (Ramy Youssef) fest. Erst wieder-, dann bereitwillig lässt Godwin, von Bella »God« genannt, die Frau auf ihren Wunsch hin auf die Welt los. Die Verlobung mit McCandless als Absicherung gegen sexuelle Erfahrungen bringt dabei herzlich wenig. Denn mit Einsetzen ihrer, wenn man so sagen will, Pubertät wird Bella zu einer Sexbesessenen, die mit dem Draufgänger-Dandy Duncan Wedderburn (herrlich: Mark Ruffalo) durchbrennt. Der nutzt Bellas Naivität und Lust eiskalt aus.
»Poor Things ist ein Monsterfilm über das Monster Welt und zugleich eins der wohl schrägsten Coming of Ages der Filmgeschichte. In der Logik eines odysseischen Stationendramas folgen wir Bella durch ihre Entwicklungsstadien, von infantil-animalischer Lebenslust hin zu intellektueller Sublimation. In Kapiteln geht es von London aus nach Lissabon, per Schiff Richtung Griechenland, bis Bella als belesene sozialistische Prostituierte in einem Bordell in Paris landet.
Lanthimos aktualisiert den Frankenstein-Mythos als surreal überhöhte Groteske und reflektiert alles andere als gefällig Geschlechterrollen und menschliche Etikette. Das ist immer wieder zum Schreien komisch, etwa wenn Bella in Gesprächen mit dem Adel ganz frei heraus, völlig ohne Schuldbewusstsein, erzählt, dass McCandless Penis salzig schmecke. In ihr spiegeln sich das menschliche Sein, Machthierarchien, Rollenbilder und (sexuelle) Identität. Bella stellt sich mit ihrer eigenen exzentrischen Persönlichkeit dagegen.
Lanthimos hat aus dem Drehbuch von Tony McNamara, das auf dem Roman »Poor Things: Episodes from the Early Life of Archibald McCandless M.D. Scottish Public Health Officer« von Allasdair Gray aus dem Jahr 1992 basiert, einen überbordenden, subversiven, feministischen Film gemacht. Am Ende heulen und wimmern Männern und ein General mit Ziegenhirn kaut Gras. Mähhh!
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