Wie man sich neu erfindet
Am vergangenen Freitag ging ich ungewöhnlich früh zu Bett. Mir war klar, dass ich keinen schnellen Schlaf finden würde, aber der Tag hatte mich mitgenommen. Ich wusste, in welchem Buch ich lesen wollte. Es lag ganz oben auf dem Stapel, der auf meinem Nachttisch Staub ansetzte. Einige Kapitel kannte ich schon. Diesmal stieß ich beim Durchblättern auf die Geschichte von Sadie Vimmerstedt.
Sie geht so: Sadie arbeitete in einem Kosmetikgeschäft in Youngstown, Ohio. Die Mutter und spätere Großmutter liebte Musik, ganz besonders die Lieder, deren Texte von Johnny Mercer stammten. Im Jahr 1957, als Frank Sinatra sich von seiner ersten Frau getrennt hatte und seine Affäre mit Ava Gardner ebenfalls einem dramatischen Ende zustrebte, fielen ihr zwei Zeilen für einen Song ein: „ I want to be around to pick up the pieces/ When somebody breaks your heart.“
Sie schrieb die Sätze auf, steckte sie in einen Briefumschlag, den sie an „Johnny Mercer, Songwriter, Los Angeles, California“ adressierte und der tatsächlich seinen Empfänger erreichte. Mercer gefiel der rachsüchtige Textanfang und er dichtete ihn weiter. Der Song blieb sechs Jahre liegen, wurde dann aber ein Riesenhit. Der Songschreiber fand es nur recht und billig, seine Co-Autorin an den Tantiemen zu beteiligen. Plötzlich konnte Sadie Vimmerstedt sich ihren Lebenstraum erfüllen und besuchte Orte wie Paris oder Rom besuchen, die sie bis dahin nur aus Liedern oder Filmen kannte. Sie schickte Postkarten aus allen Ecken der Welt. Ihre Geschichte ist ganz nach dem Gusto des Mannes, der sie niederschrieb. Sie handelt von einem Amerika, das er sich erträumte und in dem er meist auch lebte: voll unverhoffter Möglichkeiten, zweiter Chancen und Gerechtigkeit. Tony Bennetts Amerika.
Vor einer Woche starb er im Alter von 96 Jahren. Ein paar Tage zuvor soll er noch am Klavier gesessen und gesungen haben. Ein Nachruf auf ihn hat an dieser Stelle eigentlich nichts zu suchen. Nach dem ausführlichen Auftakt werden Sie ahnen, dass dieser Eintrag lang werden und wahrscheinlich wenig mit dem Kino zu tun haben wird (über seine Verbindung zum Filmgeschäft erfahren sie weit mehr unter folgendem link: https://www.indiewire.com/features/commentary/tony-bennett-goodfellas-song-didnt-like-1234887341/). Ich kann Ihnen nur von meiner Verehrung für ihn erzählen. Da er kein Filmemacher war, ist sie ganz unprofessionell, eine absichtslose Liebe. Für den Fall, dass Sie das nicht interessiert, bin ich Ihnen in diesem Monat dann noch einen weiteren Eintrag schuldig.
In dem stets obenauf liegenden Buch, das „Just getting started“ heißt, erzählt Tony Bennett seine Biographie anhand von lauter Begegnungen. Sie laufen stets auf eine Lebenslektion hinaus. Auch an diesem Freitagabend erteilte er mir eine. Das Bezeichnende am Sadie-Vimmerstedt-Kapitel ist ja, dass er selbst nur eine Nebenrolle darin spielt. (Keine unwichtige indes, denn „I wanna be around“ brachte so reichhaltig Tantiemen, weil er das Stück 1963 aufnahm.) So ist das ganze Buch: Es handelt von Rechnungen, die er begleichen will. „Just getting started“ ist eine Anthologie kleiner Hommagen, die mit seiner Mutter Anna Suraci Benedetto beginnt und mit seinem Vater Giovanni „John“ Benedetto endet. Insgeheim handelt das Buch von dem Glück, Tony Bennett zu sein. Es beglaubigt all die Aufnahmen, auf denen man ihn unweigerlich mit einem strahlenden Lächeln sieht. Wann hat er sich je anders gezeigt? Ein solches Lächeln kann man nur in Amerika lernen, und es wurde mit den Jahren immer einnehmender. Ob man ihm glaubt, hängt nicht zuletzt davon ab, wie man zu dem Land steht.
Das gilt auch für den Buchtitel, den man leicht als Beleg einer dortigen, zwanghaften Ausstellung von Rüstigkeit lesen könnte. Er war 90, als er es veröffentlichte und absolvierte in jedem Jahr nach wie vor Bühnenauftritte in dreistelliger Zahl. Es gibt mithin gute Gründe, die Zuversichtlichkeit dieses kregelen Menschen für bare Münze zu nehmen. Wie man gerade und immer wieder neu anfängt, das hat er immer wieder vorgeführt. Sein Optimismus war sturmerprobt und er durchlebte The Good Life voller Dankbarkeit. Sein Buch handelt auch von der Verantwortung, Tony Bennett zu sein.
Für mich war er fast wie ein Angehöriger. Meine Freundin Karin, die ich als Erste anrufen musste, als ich die Nachricht erhielt, fand die besseren Worte dafür: „Er war ein Lebensbegleiter.“ Einer seiner ersten Hits, „Stranger in Paradise“, war schon ein Lieblingslied ihres Vaters gewesen. Sie war ganz vernarrt in „Tony“, nicht nur wegen des Wohlklangs seiner Stimme, die klar und warm klang, sondern auch wegen seiner Erscheinung („Solche Männer gibt es heute nicht mehr!“) in späteren Jahren. Fürwahr, er machte wirklich etwas her mit seinem römischen Profil: kein Kopf, sondern ein Haupt. Bennett war ein Inbild der Eleganz. Er hatte Klasse.
Karin und ich besuchten jedes der drei Konzerte, die er in Berlin gab. Das Publikum wurde mit den Jahren zahlreicher und jünger. Über das erste, das im Großen Sendesaal des damaligen SFB stattfand, hat Holger Kreitling sehr schön geschrieben (https://www.welt.de/kultur/pop/article246515896/Tony-Bennett-Spiel-s-noch-einmal-Tony.html). Allerdings habe ich einen Satz dieses unvergesslichen Abends etwas anders im Ohr: „This is a great hall“, lobte er die Akustik, „I hope they'll never turn it into a bank.“
Die Begeisterung für ihn traf mich nicht wie ein Blitzschlag. Für mich war er jahrelang der Sänger von „I left my Heart in San Francisco“ gewesen, aber zugleich auch ein Crooner, der sich klug dem Jazz anverwandelte und dafür entspannte Begleiter wie Count Basie und das Ralph Sharon-Trio brauchte. Ende der 1980er fing ich an, ihn neu zu entdecken. Das war genau der richtige Zeitpunkt. Er erlebte nicht nur ein Comeback, sondern eine Renaissance. In diesem Jahrzehnt gab er seiner Karriere eine andere Richtung. Er hätte ewig weiter in Las Vegas auftreten können und dort ein treues, mit ihm alterndes Publikum hinreichend begeistert. Dann würden wir uns an ihn erinnern wie an, sagen wir, Steve Lawrence oder Barry Manilow. Aber das reichte ihm nicht mehr. Mit Hilfe seines Sohnes Danny, der damals auf Punk stand, erfand er sich neu. Als sein Manager sorgte Danny dafür, dass er plötzlich für ein jüngeres Publikum attraktiv wurde. Er trat nun an unerwarteten Orten auf, sein Sound wurde zeitgenössisch und die Cover seiner Alben fotografierte jetzt Annie Leibowitz.
Dass dies eine Wiedergeburt auch im Wortsinne war, erfuhr ich erst später. 1979 wäre er fast an einer Überdosis in seiner Badewanne gestorben. Seine Erfolgsgeschichte, die archetypisch amerikanisch begonnen hatte – ein Einwanderersohn, der als singender Kellner anfing und rasch ein ernsthafter Konkurrent von Frank Sinatra wurde – verwandelte sich Mitte der 1960er Jahre in eine nicht minder archetypische Niedergangsgeschichte: Seine Ehefrau ließ sich von ihm scheiden, weil er den Verlockungen des Tourneelebens nicht widerstand. Künstlerisch brach eine Zeit der Ratlosigkeit an. Er ging mit den Moden, nahm lauter aktuelle Sachen auf, die ihm nicht lagen. Nicht einmal mit Stücken der Beatles oder von Burt Bacharach konnte er etwas anfangen. Schlimm, sich das heute anzuhören - er steht auf wackeligem Boden, verirrt sich in den poppigen Arrangements, sein Timing passt nicht zu den angesagten Latino-Rhythmen. Mitte der 1970er gab es zwei Hoffnungsschimmer: die beiden Alben, die er mit dem Pianisten Bill Evans aufnahm, in denen er seine Stimme als gleichberechtigtes Instrument einsetzte und sich mithin ernsthaft und demütig auf seine ersten Versuche im Jazz besann. Dafür interessierte sich damals nur kaum jemand. Das Label, das er gegründet hatte, ging pleite; er stand auf einmal ohne Plattenvertrag da. Er malte viel und zeichnete mit seinem Geburtsnamen Antonio Benedetto.
Dann ging er zu Columbia zurück, wo er seine ersten Erfolge gefeiert hatte, aber später zusehends unglücklich gewesen war. Er stellte nicht alles auf Anfang. Er blieb dem Pianisten Ralph Sharon treu, mit dem er ein halbes Jahrhundert lang arbeitete; bis zu dessen Tod. Vor allem blieb er sich selbst treu: Er holte Tony Benett wieder aus sich hervor und pflegte hingebungsvoll das Erbe des Great American Song Book. Er wurde zu dessen Siegelbewahrer und als Interpret zum Goldstandard. In einer Reihe von Alben näherte sich ihm immer wieder anders an, jetzt häufig auf den Spuren von Interpreten, deren Stil er genau studiert hatte, darunter Ella Fitzgerald und Sinatra. „Perfectly Frank“ war ein veritabler Hit.
Nun gab es kein Halten mehr. Danny brachte ihn auf die Idee, bei MTV aufzutreten, und gleich auch noch unplugged. Das wurde ein neues Markenzeichen: keine Show, in der er nicht wenigstens ein Stück ohne Mikrophon und a capella schmetterte. Tragend genug war seine Stimme. (Wie er darauf kam, erfahren Sie am Schluss.) Bei MTV trat er mit lauter jungen Talenten auf. Aus dieser Begegnung entstanden später zahlreiche Alben, etwa mit k.d. Lang und Diana Krall. Für die drei „Duets“- Alben holten sich Danny und er alle nur erdenklichen Partner und Partnerinnen: Amy Winehouse (die an seiner Seite die Dinah Washington in sich entdeckte), Elvis Costello, Natalie Cole (deren Vater er bereits bewundert hatte), die Dixie Chicks, Aretha. Franklin et.al..Mit diesen Profis wollte er sich nicht messen, sondern er verschwor sich mit ihnen zum Ruhm des American Songbook. Selbst seine eigenen frühen Klassiker, die nicht ganz so gut altern, bekamen nun Relevanz. Sein erster Number-One-Hit von 1950, das schwülstige „Because of you“, frischte er mit k.d. Lang auf. Das wuchtige Pathos von „Stranger in Paradise“ wurde noch wuchtiger im Duo mit Andrea Bocelli: Won't you answer this fervent prayer?
Das sind elastisch geschlossene Pakte, deren Aufgabenteilung eigentlich feststand: die Strophen im jeweiligen Wechsel. Aber das Schöne war oft, dass man für einen Sekundenbruchteil nicht immer wusste, wessen Stimme gerade anhob. „Speak Low“, Kurt Weills schönsten Song, fängt Bennett auf dem falschen Fuß an, mit zu viel Emphase, aber dann finden er und Norah Jones genau den richtigen Flüsterton. Diese künstlerische Neugier gipfelte in den zwei Alben und Tourneen, die er mit Lady Gaga („Well, she needed the money.“) in Angriff nahm. In den letzten beiden Jahrzehnten seiner Karriere verkaufte er mehr Tonträger und gewann mehr Grammys (als ältester Sänger überhaupt) als in den fünf Jahrzehnten davor. Er ging mit der Zeit und sie ging mit ihm; der coole Großvater des Pop.
Ich ließ es an jenem Freitag nicht mit einem Kapitel aus „Just getting started“ bewenden. Es war einfach zu tröstlich und inspirierend. Darum geht es im Grunde auch: woher Inspiration rührt und wie sie wirkt. Bill Evans brachte Bennett bei, was zählt: „Just truth and beauty, that's all.“ Er lernte von Bing Crosby, wie man das Publikum erreicht. Vor den Gemälden des großen Porträtisten John Singer Sargent erkannte er, dass auch seine Kunst eine der Interpretation ist. Astoria, das Viertel von Queens, in dem er aufwuchs, bereitete ihn darauf vor, im modernen Amerika zu lieben. Harry Belafonte und Martin Luther King lehrten ihn ziviles Engagement. Von seinem besten Freund Sinatra lernte er, man glaubt es kaum, Großzügigkeit. Eine Lebenslektion zum Schluss, sozusagen aus aktuellem Anlass, die er Maurice Chevalier verdankte. Der französische Sänger sollte im Waldorf Astoria auftreten, als plötzlich die New Yorker Musikergewerkschaft in den Streik trat. Dem Veranstalter hätte es genügt, wenn Chevalier zu Playback gesungen hätte. Aber das kam für ihn aus Loyalität zu den Musikern nicht infrage. Absagen ebenso wenig, denn sein Publikum wollte er auf keinen Fall enttäuschen. Also sang er a capella.
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