Kritik zu Jeder schreibt für sich allein

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Dominik Grafs Dokumentarfilm nach dem Buch von Anatol Regnier betrachtet und diskutiert die Wege deutscher Schriftsteller im Nationalsozialismus – fast drei Stunden lang, und keine Minute ist zu viel

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Es gab sie selbstverständlich auch unter den Schriftstellern, die strammen, über jeden Zweifel erhabenen Nazis. Gestalten wie Hanns Johst, der unsäglichen Führerkitsch verfasste und seinen Freund Heinrich Himmler auf »Inspektionsreise« ins besetzte Polen begleitete, oder Will Vesper, der schrieb: »Wenn ein deutsches Mädchen ein Verhältnis mit einem Juden hat, so werden beide wegen Rassenschande mit Recht verurteilt. Wenn ein deutscher Schriftsteller und ein deutscher Buchhändler ein Verhältnis mit jüdischen Verlegern eingeht – ist das nicht eine weit schlimmere und gefährlichere Rassenschande?«

Auch Johst und Vesper sind Protagonisten im Film »Jeder schreibt für sich allein«, den Dominik Graf nach dem Buch von Anatol Regnier und gemeinsam mit dem 1945 geborenen Autor gedreht hat. Doch mehr noch als für die eindeutig regimetreuen Autoren interessieren sich Graf und Regnier für jene Schriftsteller und Schriftstellerinnen, deren Rolle nicht so eindeutig ist, die sich in den Grauzonen zwischen Anpassung und Rückzug, Anbiederung und Opposition bewegten. Denn wer das Land 1933 nicht verließ, musste sich irgendwie zu den neuen Machthabern verhalten. »Wir heutigen kennen ja das Ende, die Menschen damals kannten das Ende nicht«, sagt Regnier, dem es dabei aber nicht um eine Entschuldigung geht, sondern um Erkenntnis.

Regnier, 1945 geborener Schriftsteller, Gitarrist und Chansonsänger, hat einschlägige familiäre Wurzeln: Seine Mutter Pamela Wedekind war mit Klaus Mann verlobt, seine Großmutter Tilly hatte nach dem Tod des Großvaters Frank Wedekind eine lange Liebesbeziehung mit Gottfried Benn – eine der zentralen Gestalten des Films. Graf knüpft hier thematisch an seine Kästner-Verfilmung »Fabian« von 2021 an und begleitet Regnier mit der Kamera auf Spurensuche, besucht mit ihm das Literaturarchiv Marbach, reist zum Hans-Fallada-Haus und zu Will Vespers Landgut. Auch nach Sanary-sur-Mer bei Marseille führt die Reise, in das kleine Hotelzimmer, das der Exilant Klaus Mann bewohnte und von wo er dem von ihm verehrten Gottfried Benn einen persönlichen, entsetzten Brief schrieb: Wie könne ein Mensch des Geistes wie er Partei für die geistlosen Nazis ergreifen? Benn antwortete auf Manns privaten Brief öffentlich und sprach den Exilanten »in ihren Badeorten« kategorisch ab, die Situation beurteilen zu können – man müsse schon vor Ort sein. Benns schäbige Rolle in der Anfangszeit des »Dritten Reichs« fasst der Film treffend zusammen: Da wollte einer den Pakt mit dem Teufel eingehen – doch der Teufel wollte gar nicht mit einem wie ihm paktieren. Benn zog sich für den Rest der tausend Jahre verbittert in die Anonymität zurück.

Ganz anders und etwas rätselhaft der Weg Kästners, der 1933 Zeuge der Verbrennung seiner eigenen Bücher wurde, im Land blieb und später in direktem Auftrag von Goebbels das Drehbuch zu »Münchhausen« schrieb. Oder der soziale Misfit Fallada, ganz sicher kein Nazi, aber wohl bereit, einen Roman über böse Juden zu schreiben. Oder Ina Seidel, Autorin des Bestsellers »Das Wunschkind«, die erst vom »Weitermachen mit geschlossenen Augen« sprach, später aber der Ausstrahlung Hitlers verfiel und eine schmachtende Huldigung an ihn verfasste.

Geschichte geschieht, und Menschen wurschteln sich durch. Facettenreich und differenziert diskutiert der Film die Komplexität menschlichen Denkens und Verhaltens. Interviewpartner sind beispielsweise die Schriftsteller Florian Illies und Gabriele von Arnim, die Kunstkritikerin Julia Voss, der Historiker Christoph Stölzl oder der Filmproduzent Günter Rohrbach. Archivmaterial und einzelne, äußerst zurückhaltend inszenierte szenische Elemente fügen sich im weit gespannten essayistischen Bogen schlüssig in den Fluss aus Geschichten und Schicksalen. Dominik Grafs eindringliche Erzählstimme trägt ebenfalls dazu bei, dass der Film seine Spannung über ganze 168 Minuten hält. So ist »Jeder schreibt für sich allein« mehr als ein Dokumentarfilm über einige Autoren in der Nazizeit geworden: Er ist eine faszinierende und immer wieder berührende filmische Form von Mentalitätsgeschichte und zugleich ein philosophisches Plädoyer für die Vorsicht bei moralischen Urteilen. Denn: Wie sicher kann ein Mensch sich seiner selbst sein?

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