Sorge um Antoine Doinel
Das Geld sollte innerhalb eines Monats zusammenkommen, aber das avisierte Ziel von 15.000 € war bereits nach anderthalb Tagen erreicht. Wenige Stunden später waren schließlich 20382, 84 € in der Kasse. Es stammt von 436 Spendern, denen das Wohl des Schauspielers Jean-Pierre Léaud am Herzen liegt.
Als ich am Donnerstag letzter Woche auf die Initiative des Vereins "Les Amis de Francois Truffaut" aufmerksam wurde, war dessen Konto im Netz bereits geschlossen. Immerhin hatte ich eine neue Vokabel gelernt: "cagnotte", Gemeinschaftskasse. Auf den einschlägigen Webseiten wird üblicherweise Geld für Hochzeiten oder andere Familienfeiern gesammelt. Diesmal jedoch ging es um einen Notfall. Der Star von »Sie küssten und sie schlugen ihn«, »Die Mama und die Hure« sowie »I Hired a Contract Killer« befindet sich in einer verzweifelten Lage: finanziell, körperlich und mental. Seine letzte Hauptrolle in »Der Tod von Ludwig XIV« liegt liegt sieben Jahre zurück, danach absolvierte er nur vereinzelte Gastauftritte.
Zwei Wochen zuvor hatte sein Freund Serge Toubiana einen Anruf von ihm erhalten. Léauds 79. Geburtstag am 28. Mai lag da gerade zwei Tage zurück. Der Truffaut-Biograph fand den Schauspieler in einem desolaten Zustand vor. Seit dem Tod von Jean-Luc Godard im vergangenen September hatte er sich angeblich geweigert, sein Bett zu verlassen. Seine Gattin Brigitte war überfordert, allein kann die reizende, zarte Frau ihn nicht mehr pflegen. Es war nicht der erste Hilferuf, den Toubiana von seinem Freund erhielt. Schon vor einigen Jahren, als Léauds Bankkonto gesperrt worden war und er seine Zahnarztrechnung nicht bezahlen konnte, mobilisierte er rasch Unterstützer, darunter die Produzenten Claude Berri und Marin Karmitz. Als ehemaliger Leiter der Cinémathèque und jetziger Präsident von Unifrance ist Toubiana bestens in der Filmbranche vernetzt.
Jetzt ist Léauds Lage indes noch bedrängender. Er steht vor dem Bankrott. Der Schauspieler bezieht eine beklagenswert kleine Rente, neben der er noch die geringfügigen Mieteinnahmen einer zweiten Wohnung hat. Die ehemalige Lehrerin Brigitte bezieht ebenfalls nur eine kleine Pension. Nun geht es erst einmal darum, seine medizinische Versorgung sowie einen regelmäßigen Pflegedienst zu organisieren. Seine Finanzen müssen verwaltet werden. Das Paar träumt von einem kleinen Urlaub am Meer.
Wie lange das Geld reicht, das die von Toubiana alarmierten "Amis de Francois Truffaut" sammelten, ist unbestimmt. Nicht alle Verehrer des Schauspielers, die nun Beträge zwischen zehn und 1000 Euro spendeten, werden erneut dazu in der Lage sein. Viele von ihnen haben selbst nicht viel zum Leben (man beachte die 84 Cent hinter dem Komma), was einigen Kommentaren auf der Website zu entnehmen ist. Hier wäre jetzt eigentlich wieder eine Suada gegen die soziale Kälte der Macron-Ära fällig, aber für heute soll die Freude genügen über diesen schönen Ausweis cinéphiler Dankbarkeit und Solidarität.
Nachdem der Regisseur Jacques Rozier vor wenigen Tagen im Alter von 94 Jahren starb, sind Léaud und Alain Cavalier die letzten Überlebenden der Nouvelle Vague. Rozier befand sich ebenfalls in bedrängender finanzieller Lage, vor zwei Jahren ging durch die Presse, dass sein Vermieter ihn aus seiner Wohnung werfen wollte. Für unregelmäßig beschäftigte Filmkünstler ist das Rentensystem Frankreichs offenbar nicht geschaffen. Es gibt zwei Organisationen, "L'Adami" und "Audiens", bei denen darstellende Künstler Hilfsgelder beantragen können. Aber deren Mittel sind begrenzt, weshalb die Vergabe zeitlich streng reglementiert ist und nicht auf einer regelmäßigen Basis stattfinden kann. Zu den Antragstellern gehören nicht selten namhafte Künstler, deren Anonymität gewahrt bleibt. Es bleibt zu hoffen, dass Léauds Hilferuf ein weites Echo findet.
Es mutet einerseits befremdlich an, sich den Darsteller des kleinen Antoine Doinel, dessen fragender Blick am Ende von »Sie küssten und sie schlugen ihn« mich nie losgelassen hat, als Pensionär vorzustellen. Andererseits auch nicht, denn er durfte vor der Kamera stets jemand bleiben, der dringend adoptiert werden musste. Und der Schauspieler trug schwer am Verlust seiner Regisseure und Wegbereiter. Das epochale Zerwürfnis zwischen Truffaut und Godard ließ ihn in den frühen 1970ern als Scheidungskind zurück. Der Selbstmord von Jean Eustache stürzte ihn in tiefe Verzweiflung; nach dem Tod Truffauts drohte der Schauspieler, sich aus dem Fenster zu stürzen. Schwer zu sagen, ob er danach nun als Irrlicht oder Somnambuler durchs Kino geisterte. Eher Letzteres, denn gut und einnehmend war er eigentlich immer. Wenn er geflissentlich darüber hinweg sah, als Selbstzitat besetzt zu werden, besaß das eine ganz eigene Würde.
Godard, für den ich an dieser Stelle selten ein gutes Wort übrig habe, hat ihn bis zu seinem Tod offenbar regelmäßig unterstützt. Vielleicht sollte man hiervon gare nicht so überrascht sein, denn Lèauds Filmographie handelt zu einem guten Teil von unerwarteter Größe. In seiner Dankesbotschaft behauptete er, der Regisseur und er hätten noch ein gemeinsames Projekt verfolgt. Und er freue sich darauf, bald wieder vor der Kamera zu stehen. Daran würde ich gern glauben.
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