Kritik zu Für die Vielen – Die Arbeitskammer Wien

© Stadtkino Filmverleih

2022
Original-Titel: 
Für die Vielen – Die Arbeitskammer Wien
Filmstart in Deutschland: 
27.04.2023
L: 
120 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Die Arbeiterkammer in Wien bereitet ihr 100-jähriges Bestehen vor. Doch mitten hinein in die Vorbereitungen platzt Corona und plötzlich gibt es drängendere Probleme

Bewertung: 4
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Seit fünf Monaten habe er kein Geld bekommen, sagt ein Mann in gebrochenem Deutsch. Man habe ihn immer wieder vertröstet und er habe seine Arbeit gewissenhaft erledigt. Einem anderen droht die Kündigung, man habe keine Verwendung mehr für ihn und eine Frau mittleren Alters mahnt, man möge bitte nicht zu hart sein mit ihrem Arbeitgeber, dann werde er böse und ihr drohe noch Schlimmeres. 

Es dauert nur wenige Minuten und man hat verstanden, warum es so wichtig ist, eine Arbeiterkammer zu haben, die sich für die Rechte der Arbeitnehmer einsetzt, aber auch für den Verbraucherschutz. Was man nicht versteht, und dieses Gefühl wird bis zum Schluss des Films immer stärker, wa­rum es bei uns so etwas nur in Bremen und dem Saarland gibt. 

Es wird ähnliche Gründe haben, wie der Kampf gegen die Gesundheitsvorsorge in den USA. Während man in Österreich mit allen institutionellen Mitteln und viel persönlichem Einsatz dafür kämpft, einen modernen Sklavenmarkt zu zerschlagen, ist es in Deutschland immer noch weitestgehend Sache des Einzelnen. Doch die, die es am häufigsten betrifft, Migranten, Menschen mit Behinderungen, sozial schwache und bildungsfern sozialisierte Menschen, kommen oft nicht, um Urlaubsgeld, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Nachtzulagen oder Tariflöhne einzufordern, einfach weil sie froh sind, überhaupt Arbeit zu haben. 

Eine solche Institution, die sich über eine Abgabe von fünf Prozent des Bruttolohnes finanziert und daher von den Mitgliedern kaum als Gebühr wahrgenommen wird, ist ein wahres Geschenk. Und zum einhundertjährigen Bestehen jedes Lob wert. Doch dann, mitten in den Dreharbeiten, kam Corona, der erste Lockdown und ein sprunghaftes Ansteigen der Betroffenen und Bedürftigen. Dass der Film hier die Kurve kriegt, sein Ziel im Auge behält und nicht den Ereignissen hinterherläuft, auch das ist eine Leistung. 

Denn was im Alltag oft ein akzeptiertes Dilemma ist, der Kreislauf von keine Wohnung, kein Arbeitsvertrag, keine Hilfsleistungen, wird mit Corona zu einer zweiten Katastrophe. Denn nun stehen tatsächlich Existenzen auf dem Spiel. So steigert Constantin Wulff in seinem Film ein Gefühl der Notwendigkeit, ohne dass er die Einflüsse vorhersehen konnte. 

Gedreht wurde im Stil des Direct-Cinema, eine in den 60er Jahren in den USA entwickelte Methode, den Fernsehdokumentarismus zu verändern. Die Filmemacher damals beobachteten Vorgänge, ohne in sie einzugreifen und waren tatsächlich davon überzeugt, dass dies möglich sei. Heute weiß man, dass der Beobachter den Prozess immer beeinflusst. Doch bei aller Veränderung der Situation durch die Anwesenheit der Kamera, hier wird nichts nachgestellt, nichts wiederholt. Die Protagonisten werden informiert, dass eine Kamera mitläuft und sonst nichts. Das führt nicht immer zu cinemascope-tauglichen Bildern, muss zwangsläufig in wenig pittoresken Vortragssälen und Amtsstuben verharren, aber verschärft die Thematik. Soziales Denken ist nicht im Interesse der Wirtschaft und das wird mittlerweile auch von Teilen der Politik akzeptiert. Wohl denen, die noch dagegen kämpfen.

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