Der Weg ins Leben

Victor Erice dreht einen neuen Film. Der spanische Regisseur setzt nach einer Pause von 30 Jahren sein Lebenswerk fort. »Cerrar los ojos« (Schließe deine Augen) soll in der Filmwelt spielen und sich mit Identität und Erinnerung auseinandersetzen. Ob er zu Festivalehren gelangen wird, ist momentan noch nicht abzusehen. Auf der Berlinale ist Erice immerhin schon vertreten: Mit seinem traumspielerischen Klassiker »Der Geist des Bienenstocks«, der in der Retro gezeigt wird.

Berlinale? War da was? Beim Blick ins Februarheft von epd Film werden Sie sich womöglich ebenso sehr gewundert haben wie ich, dass sie kaum vorkommt. Keine Vorschau auf die Sektionen, kein Essay zur Retro. Haben wir uns so sehr von ihr entwöhnt nach den virtuellen, hybriden und reduzierten Ausgaben der Pandemiezeit?

Dabei ist die diesjährige Retrospektive "Young at heart" durchaus der Pandemie geschuldet. Annika Haupts, die in der Deutschen Kinemathek für die Programmkoordinaten zuständig ist, machte sich Gedanken darüber, was während des Lockdowns in Kindern und Jugendlichen vorging: Fühlten sie sich abgehängt? Daraus entwickelte sich die Idee, eine Retrospektive über das Heranwachsen im Kino zu konzipieren. Festivalleiter Carlo Chatrian griff sie begeistert auf und sponn sie weiter: Filmemacherinnen und Filmemacher weltweit sollten ihre Lieblingsfilme zum Thema auswählen und vorstellen. Das Konzept will die Filme mit ihren persönlichen Geschichten verbinden. (https://www.deutsche-kinemathek.de/de/besuch/festivals-symposien/young-heart-coming-age-movies)

Ein vielfacher Freibrief also für Subjektivität und Nonchalance. Ein solches Programm hätte sich kein Kurator ausdenken können: ohne historische Sachzwänge, nicht repräsentativ, geschweige denn erschöpfend. Es geht sogar ohne die Unverzichtbaren – Truffaut und Robert Mulligan, um nur zwei Spezialisten für das Coming of Age zu nennen, dürfen getrost fehlen; auch von Nikolais Ekks »Der Weg ins Leben« keine Spur, der scheinbar in treuherzig sowjetischer Tradition die sozialisierende Wirkung der Arbeit feiert, aber insgeheim seine Sympathie für die vorwitzige kriminelle Energie seiner Helden, verwahrlosten Straßenjungen, nicht verhehlen kann.

Aber als Kritiker bin ich in diesem Fall glücklich der Verlegenheit enthoben, kuratorische Versäumnisse aufzuzeigen. Und so sehr mich sonst die deutsche Gepflogenheit stört, berühmte Gegenwartsnamen zwischenzuschalten, um Lust auf Filmgeschichte zu wecken, so froh bin ich diesmal über das Konzept der Patenschaft. Es bedeutet schließlich ein pesönliches Einstehen für den gewählten Film. Und viele Filmemacherinnen und Filmemacher besitzen ein besonderes Talent, uns das Sehen zu lehren.

Eine ganze Reihe unverzichtbarer Titel gibt es natürlich doch. Für die poetische Gabe des iranischen Kinos, eine repressive Gesellschaft mit Kinderaugen zu betrachten, steht »Wo ist das Haus meines Freundes?« von Abbas Kiarostami, den Niki Karimi ausgesucht hat. Von Maurice Pialat, der im Kino die offenen Rechnungen seiner eigenen Kindheit zornig einklagte, läuft »Auf das, was wir lieben«. Er erzählt von Verwundung und Aufbeghren, vom Zerbrechen einer Familie; das Versprechen eines besseren, glücklicheren Lebens konnte er nicht geben. Patin für Pialats »À nous amours« ist Alice Diop. Mit Jean-Claude Brisseaus »Lärm und Wut« ist ein weiterer, zentraler Film aus Frankreich vertreten, den Nadav Lapid ausgesucht hat. Der Zorn ist auch ein entscheidender Abntrieb bei Elia Kazan. Sein Melo »Fieber im Blut« handelt davon, wie zwei Teenager an ihrer puritanischen Erziehung zu zerbrechen drohen. Ihr unerlöstes Begehren lässt sie krank an Körper und Seele werden. Kazan erzählt jedoch einen Reifungsprozess, der unmittelbar auf seine eigenen Erfahrungen mit der Psychoanalyse zurückgreift. Im Kern geht es auch darum, seinen Eltern zu verzeihen. Pedro Almodóvar hat ihn ausgewählt.

Für Nagisa Oshimas rabiaten Gangsterfilm »Nackte Jugend«, der zwei Arten von Rebellion gegen das restaurative Klima im Nachkriegsjapan zeigt – die politische wie die Jugendliche -, steht Luca Guadagnino Pate. Isolation und Entfremdung herrschen in den Familien; nie zuvor hatte ein japanischer Regisseur die Geschlechterverhältnisse mit solcher Brutalität gezeigt. Der philippinische Regisseur Lino Brocka erzählt ebenfalls mit genrehafter Dringlichkeit von der Liebe als Orientierungssuche; »Manila« hat Lav Diaz ausgewählt. Das ist überhaupt das Geniale an der Konzeption: Sie steht weit offen für das Weltkino. Erstaunlich an der Auswahl ist überdies, dass das Thema des Heranwachsens nicht auf Kindheit und Jugend beschränkt bleibt. "Touki Bouki" aus dem Senegal, dessen Wiederentdeckung vor einigen Jahren Epoche machte (hier empfohlen von Abderrahmane Sissaso), »Drei Farben: Blau« (ausgesucht von der Hauptdarstellerin Juliette Binoche) sowie »Und täglich grüßt das Murmeltier« (der Nora Fingscheidts Wahl ist) schildern Lebensumbrüche im Erwachsenalter. Wie gesagt, auch die Nonchalance hat ihren Platz. Flankiert wird die Filmreihe übrigens von einem schönen Programm der Streamingplattform LaCinetek, deren kuratorisches Grundprinzip ohnehin die künstlerische Patenschaft ist: https://www.lacinetek.com/de/selection/coming-of-age.

Nun wollen wir aber auch triftige Begründungen für die Auswahl hören! Diese Retro kommt ohne Katalog aus. Stattdessen gibt es auf der Seite der Kinemathek einen lebhaften Online-Auftritt. Einige Filmemacher haben Video-Notes geschickt, darunter Ethan Hawke. M. Night Shyamalan, Aparna Sen und Carla Simón, die Patin von Erices Film. Wie viel Martin Scorsese mit »Vor der Revolution« anfangen kann, war schon in meinem Eintrag zu Bertoluccis Film im ersten Lockdown (»Die Dächer von Parma« vom 10. 4. 2020) zu erahnen. Einige Paten werden "ihre" Filme direkt im Kino vorstellen. Mohammad Rasoulofs Statement zu »Jeder für sich und Gott gegen alle« wird ein Freund des iranischen Regisseurs verlesen, der zwar aus dem Gefängnis von Evin entlassen wurde, aber nicht in Freiheit lebt.

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