Augen, die schreiben
Es gibt Tage, von denen man nicht weiß, dass es sie gibt. Manchmal erfährt man morgens im Rundfunk von ihnen und ist erstaunt. Der 23. Januar beispielsweise ist ein Datum, das sich Pädagogen, Historiker, Graphologen und Kulturpessimisten bestimmt im Kalender notieren: Heute ist der Tag der Handschrift.
Dass er gerade an diesem Datum begangen wird, hat mit John Hancock zu tun, dem ersten Unterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Lehrern und Kulturpolitikern wird an dem Tag bang. Die Schönschrift, mahnen sie, müsste dringend wieder auf den Stundenplan gesetzt werden. In dem Fach war ich als Kind schlecht und heute steht es nicht besser um meine Handschrift. Ich glaube, ich würde auch nicht so gern wissen, was sie über mich aussagt. Zudem kann ich sie oft selbst kaum lesen; manchmal nicht einmal mehr, wenn ich kurze Zeit später auf sie blicke. Besonders verdrießlich ist das, wenn ich mir im Dunkel des Kinosaals oder vor dem Bildschirm Notizen für einen Artikel mache. Das läuft dann immer auf eine mühsame Entzifferngsarbeit hinaus.
In der digitalen Welt verblasst die Handschrift. Selbst die von einigen engen Freunden kenne ich gar nicht, weil wir hauptsächlich per Email oder SMS kommunizieren. Dabei bin ich von Berufs wegen einer, der Handschriften erforscht. Als Filmkritiker will ich die einer Künstlerin oder eines Künstlers benennen. Dazu gehe ich wie ein Graphologe vor, achte auf Eigenarten, Muster und Wiederholungen, um sie zu identifizieren. Sie soll individuell und unverwechselbar sein. Gefälscht werden kann sie nicht.
Meine kurze Internetrecherche zu ihrer Bedeutung im Kino brachte heute früh nicht viel heraus. Die IMDb verzeichnet gerade einmal 80 Titel unter dem Stichwort. Was fehlte, war interessanter: die wundersame »Handschrift von Saragossa« beispielsweise oder »Eine blassblaue Frauenschrift«, die belegt, was für schöne Titel Franz Werfel einfielen; Axel Corti hat die Erzählung fürs Fernsehen adaptiert. Auch Truffaut fand ich nicht, bei dem ja viel geschrieben wird, zumal in seinen Filmen mit Kerzenlicht. Von ihm stammt auch die Bemerkung, wenn er selbst eine Rolle spielte, sei das wie ein handgeschriebener Brief – nicht so perfekt wie mit der Maschine, dafür aber persönlicher. Natürlich spielt die Handschrift in Filmen über Jack The Ripper eine Rolle, der Botschaften an die Londoner Polizei verfasste. Gefälschte Unterschriften gibt es zuhauf. Und Tom Hanks sowie Nicolas Cage jagen ständig nach historischen Dokumenten. Manchmal wird im Kino nicht auf Papier, sondern auf die Haut geschrieben, in »Die Bettlektüre« von Peter Greenaway oder in »Gefährliche Liebschaften«, wo dies eine Geste raffinierter erotischer Besitznahme ist.
Eine Filmemacherin, in deren Werk die Handschrift eine herausgehobene Rolle spielt, ist Jane Campion. Schon in »Ein Engel an meiner Tafel« ist das frappierend. Schon als junges Mädchen schreibt die angehende Schriftstellerin Janet Frame Gedichte in eine Kladde, die ihr der Vater schenkt. Später verbrennt sie sie, was ich einen hoch verstörenden Moment fand. Ihr Schreiben ist im Film präsent, aber dass es veröffentlicht wird, geschieht gewissermaßen außerhalb des Films. Er erzählt von ihrem Martyrium, zumal in den Händen der Psychiatrie. Ihre Schaffenskraft läuft über weite Strecken nebenher, erscheint als ein Symptom, das sozusagen jenseits ihrer Person liegt. Und dann bringen ihre Schwester und ihr Schwager ihr Vorabexemplare ihres ersten Buchs, die sie als etwas Fremdes in Händen hält, als etwas, das ohne ihr Zutun, hinter ihrem Rücken entstanden ist. Ich glaube (diese verflixten Notizen), es gibt nicht einmal eine Nahaufnahme des Buchumschlags. Aber signieren soll sie die Bücher, das verlangen die Besucher in der Psychiatrie unverzüglich.
In »Das Piano« verständigt sich die stumme Holly Hunter häufig mit Zetteln, die sie nebst Stift in einer Schatulle aus Metall auf der Brust trägt. Einmal schreibt sie auf eine Taste, die sie samt Saite aus dem Klavier nimmt, ein Liebesbekenntnis an Harvey Keitel. Da ist Ihre Handschrift ausnehmend schön. Ihre Tochter soll diesen Kassiber, rasch umwickelt und so vor den Augen ihres Ehemanns Sam Neills verborgen, dem Empfänger überbringen. »The Portrait of a Lady« antwortet auf den vorangegangenen Film: Da wird der Filmtitel auf eine Handfläche und auf die Finger geschrieben. In »Bright Star« wird selbstredend viel geschrieben, denn der handelt von dem Dichter John Keats (Ben Wishaw) und der Liebe, der zwischen ihm und Fanny Brawne (Abbie Cornish) aufflammt. Ihre Kunst ist das Nähen und Sticken, was eine Nähe zur Kalligraphie herstellt. Auch hier ist der Filmtitel, auf dem Plakatsowie im Vorspann, handgeschrieben - leicht verschnörkelt und angemessen romantisch.
Der Körper wird bei Campion zum persönlichen und poetischen Trägermedium der Botschaften. Die können auch ganz knapp ausfallen, wie das "No", das der schweigsame Schulfreund des verschwundenen Mädchens in »Top of the Lake« auf die Innenfläche seiner Hand geschrieben hat. Das genügt vorerst, als Elizabeth Moss ihn verhört. (Die andere Hand zeigt er ihr nie.) In ihrer Schulkasse scheint diese erfinderische Wortkargheit ziemlich verbreitet zu sein. Das hat Witz, als ein anderer Kamerad antwortet Moss, in dem er ihr ein "Yes" auf seiner Handfläche zeigt – auch das eine widerständige Geste, die zeigt, wie feindselig sich die Welten der Kinder und Erwachsenen in diesem furchtbaren Flecken in Neuseeland gegenüberstehen. Aber eben auch ein eigener Code, eine private, verschworene Mitteillung. Eine Handschrift wird sichtbar: Jane Campion schreibt mit den Augen.
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