Kritik zu Paul Keller – Stille im Schrei
Wir befinden uns laut Insert im Deutschland des Jahres 1952. Die Bilder (im Format 4:3 und in schwarzweiß) konfrontieren einen jungen Mann, der durch die Straßen läuft, im Gegenschnitt mit zerbombten Häusern. Paul Keller wirkt etwas desorientiert, ein Eindruck, der sich verstärkt, als er bei der Polizei Meldung erstattet: er habe die seit einem Jahr als vermisst geltende Gerlinde Wehrmann am Abend zuvor gesehen. Er wolle nur helfen, erklärt er dem etwas desinteressiert wirkenden Inspektor, wobei er sich in Rage redet und dem Beamten sogar am Kragen seines Jacketts packt.
In einem Café beobachtet Paul hinter seiner Zeitung zwei junge Frauen. Die eine schwärmt von ihrem ersten Urlaub (in Italien) und vom Kuss eines Einheimischen dort. Ihre zuhörende Freundin vergisst ein Tuch auf dem Tisch, das Paul an sich nimmt. Später wird er sich neben sie auf die Bank an einer Bushaltestelle setzen, es ihr zurückgeben und ihr eine Brosche schenken. Der Anfang einer verhängnisvollen Beziehung, denkt sich der Zuschauer, der zu diesem Zeitpunkt schon mehr über Paul Keller weiß als das Mädchen Ingrid. Er weiß es aus den Aussagen einer Nachbarin, die bei der Polizei Anzeige erstatten will, weil Paul mit einem Luftgewehr auf sie geschossen habe und aus dem merkwürdigen Verhalten, das Paul in seiner Wohnung an den Tag legt. Dort führt er Gespräche mit seiner verstorbenen Mutter, die einst ihren toten Papagei in der Speisekammer aufbewahrte, wie die Nachbarin zu berichten wusste. Vor einer mit zwei Balken versperrten Tür stellt er eine Schüssel mit Essen. Der Zuschauer muss sich fragen, ob Paul an Halluzinationen leidet oder ob er seine Mutter oder jemand anderen hinter der Tür eingesperrt hat.
Als Thriller hat dieser Film am Schluss noch einige kleine Überraschungen zu bieten, die auch einen Kontext zur Nachkriegszeit und zu einer vaterlosen Generation herstellen – was in der Filmankündigung sein primäres Anliegen zu sein scheint. In dieser Hinsicht funktionieren die eingeschnittenen Straßenszenen aber nur ebenso begrenzt wie die Verweise auf Pauls Familiengeschichte.
»Paul Keller – Stille im Schrei« ist ein Film, der offensichtlich mit bescheidensten Mitteln gedreht wurde, zentrale Schauplätze sind menschenleere Straßen, vor allem aber Pauls Wohnung und das enge Büro des Polizisten; die Spaziergänge von Paul und Ingrid finden in der Natur statt, wo sie niemandem begegnen.
Regisseur Axel Loh zeichnet auch für Kamera und Produktion verantwortlich, darüber hinaus, wie dem Nachspann zu entnehmen ist, für Trompetensolos und Titelmusiken, Bauten, Requisiten, Kostüme, Bildschnitt und Tongestaltung. Gedreht wurde der Film mit einer Beaulieu R 16, Baujahr 1965. »Paul Keller – Stille im Schrei« ist offenbar der Film eines Filmverrückten (im positiven Sinne). Man hätte ihm allerdings mehr Verrücktheit bei Geschichte und Erzählweise gewünscht, auch ein strafferes Erzählen – der Film hat eine Länge von 129 Minuten. Wer in diesem Jahr einen merkwürdigen Film sehen will, ist hier gut aufgehoben.
Vorausgesetzt, er findet ein Kino, das ihn spielt. In Berlin ist das tatsächlich der Fall, auch wenn der Interessierte bis nach Hohenschönhausen fahren muss. Dort könnte er aber gleich ein 'Apollo'-Double Feature machen, denn der zweite Film, den der Apollo Filmverleih in dieser Woche startet, der britische Horrorfilm »Lair«, läuft dort ebenfalls.
Schon seltsam, dass sich ein Verleih die Mühe macht, den Film eines unbekannten Filmemachers in die Kinos zu bringen, dann aber so gar nichts für diesen Film tut. Erst einen Tag vor Kinostart verschickte eine Agentur die Meldung, dass der Apollo Filmverleih am nächsten Tag drei Filme in die Kinos bringen würde. Bei »Paul Keller – Stille im Schrei« scheint es sich zugleich um die deutsche Erstaufführung zu handeln (also keine Festivalpremiere vorher), aber laut IMDb hat der Film auf internationalen Festivals zwischen 2020 und 2022 insgesamt 77 Auszeichnungen erhalten. Da ist man zunächst geneigt, an einen großen Bluff zu glauben, wenn man noch nie von einem dieser Festivals gehört hat, zumal bei einer Namensgebung, die von einer KI erstellt zu sein scheint ('Tokyo International Monthly Film Festival', 'Kosice International Monthly Festival', 'Prague International Monthly Film Festival') und der Tatsache, dass er bei den 'Vegas Movie Awards' 2020 und 2021 ausgezeichnet wurde. Zumindest das Uruvatti Film Festival in Indien gibt es.
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