64. Nordische Filmtage Lübeck
»The Great Silence« (2022)
Die Nordischen Filmtage Lübeck sind Jahr für Jahr der Treffpunkt der skandinavischen und baltischen Filmszene. Die 64. Ausgabe wartete mit einem breiten Spektrum auf
Diese Art von Musik könnten nur schwarze Tauben kapieren, sagt der Saxofonist Lee Konitz, weil sie am Fenster saßen, als er ein neues Album hörte. Lee Konitz war einer der großen Stars der Modern-Jazz-Szene, der schon mit Miles Davis gespielt hat. Der dänische Gitarrist und Komponist Jakob Bro hat mit ihm immer wieder zusammen gearbeitet, und Bro ist das Zentrum der Dokumentation »Music for Black Pigeons«, auch wenn er sich nie in den Mittelpunkt drängt. Mehr als ein Jahrzehnt haben die beiden dänischen Regisseure JØrgen Leth und Andreas Koefoed Bro bei Studioaufnahmen, Proben und Konzerten beobachtet, von New York über Berlin bis nach Grönland, mit Musikern wie Bill Frisell, Thomas Morgan oder Midori Takada (der einzigen Frau im Film). Herausgekommen ist ein faszinierender und unaufdringlich fotografierter Dokumentarfilm über das Wesen und die Entstehung von Musik und ihrer Bedeutung als nonverbale Kommunikation.
»Music For Black Pigeons« war der Eröffnungsfilm der 64. Nordischen Filmtage Lübeck, eine mutige Entscheidung – es ist zwei Jahrzehnte her, dass ein Dokumentarfilm eröffnete – wie im letzten Jahr, als die isländische Actionparodie »Cop Secret« nicht zur Freude aller den Anfang machte. Überhaupt hat der Künstlerische Leiter Thomas Hailer in seiner zweiten Ausgabe bei den 14 Wettbewerbs-Spielfilmen eine durchaus experimentierfreudige Auswahl vorgelegt. »My Love Affair With Marriage« der Lettin Signe Baumane etwa war ein visuell überbordender Animationsfilm nicht nur, der Titel legt es nahe, über die Liebe, sondern auch über Ost und West. In dem sozialrealistischen »The Store« von Ami-Ro Sköld (Schweden) über die Belegschaft eines Billig-Discounters unter Druck schalten sich animierte, den realen Personen nachempfundene Figuren ins Geschehen ein. In »Sick of Myself« von Kristoffer Borgli (Norwegen/Schweden) verunstaltet sich eine junge Frau durch Medikamente selbst, um im Mittelpunkt zu stehen und zu einer Medienpersönlichkeit heranzuwachsen. Und in »Everybody Hates Johan« von Hallvar Witzø ist das Dynamit das Movens und der Kitt der Geschichte, die von der deutschen Besetzung Norwegens und dem Widerstand dagegen bis ins Heute reicht. Man kann im Einzelnen viel einwenden gegen jeden einzelnen Film, manches war zu gewollt, manches redundant, sie einte aber der Wille, etwas zu versuchen.
In »January« (Lettland/Litauen) blickt Viesturs Kairišs 30 Jahre zurück, in die Januartage des Jahres 1991. Lettland hatte die Unabhängigkeit erklärt, und russische Militäreinheiten versuchten mit der Besetzung des Innenministeriums die neue Regierung zu stürzen. Kairišs zeigt die Vorgänge durch die Perspektive des Filmstudenten Jazi, der quasi aus Trotz zur (russischen) Armee will und dann doch die Barrikaden in der Stadt filmt. Auch wenn dieser Jazi mitunter allzu unbedarft wirkt: Die Nachinszenierung, aufgenommen mit Handkamera in grobkörnigem Video und Super 8, ist fulminant und gewinnt durch den Ukraine-Krieg natürlich eine neue Aktualität.
Ganz der Zeit entrückt kommt »The Great Silence« von Katrine Brocks (Dänemark) daher. Die junge Alma steht im Kloster kurz davor, ihr finales Gelübde abzulegen. Es ist ein kleiner Konvent, und mit viel Verständnis für ihre Figuren fängt Brocks die täglichen Rituale und Arbeiten ein. Alma (Kristine Kujath Thorp) etwa kümmert sich um eine kranke Mitschwester, hat Dienst am Seelsorge-Telefon. Und Brocks nimmt sich die Zeit und die Ruhe, auch Momente der Stille wirken zu lassen. Bis Almas alkoholkranker, aber nach einem Entzug trockener Bruder Erik Zuflucht im Konvent sucht. Wie ein Schatten aus der Vergangenheit taucht er auf, ein Spiegelbild der Schuld, die Alma auf sich geladen hat. Noch ist sie nicht fertig mit ihrer Vorgeschichte. »The Great Silence« ist Brocks’ erster Spielfilm, neben dem monumentalen isländischen Godland das zweite Meisterwerk des Wettbewerbs. Gewonnen hat »The Great Silence« allerdings nicht, der Hauptpreis ging (zusammen mit dem Interfilm-Preis) an »Boy From Heaven« des in Schweden lebenden Ägypters Tarik Saleh. Da wird die Al-Azhar-Universität zum Schauplatz eines Geheimdienst-Ränkespiels mit ziemlich versöhnlerischem Schluss.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns