Kritik zu Medusa
Der neue Film der brasilianischen Regisseurin Anita Rocha da Silveira erzählt dystopisch von einem Gottesstaat der nahen Zukunft – und deutet eine feministische Emanzipationsgeschichte an
Brasilien in einer nicht näher definierten Zukunft: Eine Art patriarchaler Gottesstaat, in dem evangelikale Christen die Oberhand haben, Säkularisierung ade. Alles ist hier grell: Die Lichter der Straßenlaternen, das Blut im Abfluss, das selige Lächeln auf den Gesichtern der jungen Frauen und vor allem ihr Glaube. Mariana (Mari Oliveira) ist Teil einer fundamentalistischen Girl-Gang. Die zieht nachts maskiert umher und überfällt andere Frauen, die sich einer vermeintlichen Sünde wie vorehelichem Sex oder Homosexualität schuldig gemacht haben. Brutal schlagen sie ihre Opfer zusammen und nötigen sie dazu, für einen Videoclip ihre Vergehen zu gestehen, der dann in den sozialen Medien verbreitet wird. Als Mariana von einem ihrer Opfer verletzt wird und fortan eine Narbe als sichtbaren Makel im Gesicht trägt, fangen die Dinge an, aus dem Ruder zu laufen.
»Medusa« ist nach »Kill Me Please« der zweite Langfilm der brasilianischen Regisseurin Anita Rocha da Silveira und diesmal hat sie noch eine Spur dicker aufgetragen. Neonfarben dominieren, das Licht flackert unheilvoll, das Kreuz in der Kirche pulsiert in kreischendem Pink. Erneut arbeitet sie hier mit Bildgestalter João Atala zusammen, die Ästhetik ist ein minuziös komponierter Bilderrausch. Die meist totalen Einstellungen sind sorgfältige Tableaus, unser Blick darauf aber gebrochen. Als würden wir auf ein antikes Gemälde schauen, das plötzlich zum Leben erwacht und zurückstarrt. Assoziationen an Giallo-Meister Dario Argento oder Nichals Windign Refns »Neon Demon« drängen sich optisch auf. Mit derlei Männerfantasien, die mit Frauenblut die Leinwand tünchen, hat »Medusa« aber inhaltlich nichts gemein. Im Geiste fühlt sich Silveira eher mit Emerald Fennells »Promising Young Woman« verwandt.
Marianas Entwicklung von der ultraorthodoxen, selbstgerechten Heiligen zur zweifelnden Sünderin verläuft außerdem parallel zu einem zweiten Erzählstrang einer urbanen Legende: Ein Partygirl namens Melissa soll bei einem ausschweifenden Clubabend von einer engelsgleichen Rächerin mit Benzin überschüttet und angezündet worden sein. Der im Namen Jesu marodierenden Girl-Gang dient das als Gründungsmythos. Das Schicksal der angeblich darüber wahnsinnig gewordenen Melissa wird für Mariana zur geheimnisvollen Obsession.
Visuell beeindruckend, bleibt »Medusa« inhaltlich allzu allegorisch. Marianas sexuelles Erwachen, lesbisches Verlangen und Melissas Schicksal vermischen sich und nie ist klar, ob es sich um (Alp-)Traum, Wahn oder Vision handelt. Auch das Ende verweigert sich einer Erklärung und lässt offen, wer den Schrei der Befreiung oder des Wahnsinns am Ende erhört. Wie beim namensgebenden Mythos bleibt eine Vielzahl von Interpretationen möglich. Medusas Geschichte in der griechischen Mythologie ging übrigens so: Die Göttin Athene überraschte Poseidon dabei, wie er die bildschöne Medusa vergewaltigte. Zur Strafe wurde sie – nicht er – in ein entstelltes Monster mit Schlangenhaaren verwandelt, bei deren Anblick alle zu Stein werden.
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