Gehe in Frieden
Mir wird bang, wenn ich an die heutige Stichwahl in Brasilien denke. Der Vorsprung Lula da Silvas ist in aktuellen Meinungsumfragen geringer als zuvor erwartet. Jair Bolsonaro hält sich die Entscheidung noch offen, ob er eine Niederlage akzeptieren wird. Seine Anhänger machen jedenfalls schon mobil.
Gleichviel, wie die Präsidentenwahl nun ausgehen mag – »Bacurau« von Kleber Mendonca Filho und Juliano Dornelles, der Montag im Spätprogramm von arte läuft, ist der beste Abwehrzauber gegen das Bolsonaro-Regime, den ich kenne. Gern würde ich mit ihm morgen Abend den gelernten Fallschirmjäger aus seinem Amt verabschieden (in der Mediathek geht das noch bis zum 6. November). Andernfalls müsste der Zauber in die Verlängerung gehen, was ihm zuzutrauen ist. Daheim in Brasilien war »Bacurau« ein Phänomen, nach einem Monat in den Kinos hatten ihn bereits 500000 ZuschauerInnen gesehen. (Bei uns war er bislang nur im Streaming zu sehen.) Dem kultur-, demokratie-, klima- und indigenen-feindlichen Regime war er verhasst. Die Einladung des Films in den Wettbewerb von Cannes 2019 empfand es als Affront - und dann wurde er obendrein mit dem Preis der Jury ausgezeichnet. Als Kleber Mendonca Filho nach Brasilien heimkehrte, wurde er auf Rückzahlung angeblich unrechtmäßig erhaltener Fördergelder für seine vorangegangen Filme »Neighbouring Sounds« und »Aquarius« verklagt.
Mit ihnen hat »Bacurau« das Motiv des zivilen Widerstands gemeinsam, diesmal freilich rabiater und blutrünstiger. Wiederum eine alerte Parabel darüber, wie man in einem gespaltenen Land Gemeinsinn konstruiert - diesmal als ein Wechselbalg aus Western, Science-Fiction und noch einer ganzen Reihe anderer Genres, bestimmt so wild wie der Nachtvogel, der überall sonst ausgestorben ist, nur nicht in dem Dorf, das nach ihm benannt ist. "Wenn du kommst, komm in Frieden" fordert das Ortseingangsschild Besucher auf. Zu Beginn wird die Matriarchin des Dorfes begraben und man gewinnt augenblicklich einen Eindruck davon, wie verschworen und stolz diese Gemeinschaft ist. Der kleine Flecken, der nur aus einer Straße besteht, verfügt über ein eigenes Museum, einen eigenen Barden sowie einen DJ, der als ein zuverlässiger Nachrichtensprecher dient. Die multiethnische Dorfgemeinschaft ist die Hauptfigur des Films, in dem niemand herausragt (auch Sonia Braga nicht als trinkfeste Ärztin). Nein, das kann man schöner formulieren: Hier ragen alle heraus. Ich mag chorale, vielstimmige Filme, aber einen wie diesen habe ich noch nicht gesehen.
Co-Regisseur Dornelles fungierte in Mendonca Filhos bisherigen Filmen als dessen Szenenbildner. In ihrer Zusammenarbeit gewannen die Schauplätze stets eine konkrete und metaphorische Dimension, diesmal wird der Pakt zwischen Ort und Drama noch enger geschlossen. Einmal soll in Bacurau auch Wahlkampf stattfinden, aber die Straßen bleiben leer, wie eine majestätische Kranfahrt offenbart. Der Kandidat trägt den dubiosen Namen Tony Junior und versteht unter Kulturpolitik, Bücher verächtlich von einem Lastwagen schütten zu lassen. Es geschehen ohnehin lauter merkwürdige Dinge in der ersten Stunde des Films – die Wasserzufuhr ist gesperrt, der Tankwagen wird beschossen, gruselig bunt gekleidete Motorradfahrer tauchen auf und Drohnen überwachen die Landschaft, die aussehen wie Fliegende Untertassen aus einem Fünfzigerjahre-Film. Bald stellt sich heraus, dass eine Truppe nordamerikanischer Menschenjäger (angeführt von Udo Kier) den Ort als Beute ausgewählt hat und auf die heimliche Zustimmung der Behörden zählen darf. "The Most Dangerous Game" im Nordosten Brasiliens, darauf muss man sich erst einmal einen Reim machen. Die Regisseure können es: als eine Variante der Sieben Samurai (gelegentliche Wischblenden erinnern an Kurosawas grimmige Lakonie), bei der die Sieben eigentlich gar nicht gebraucht werden. Gewiss, die Gemeinde bedarf der Unterstützung, aber sie kommt aus den eigenen Reihen, von drei verstoßenen Banditen, die mithelfen, die Beute in eine Falle zu verwandeln.
Kaum vorstellbar, dass die Co-Regisseure schon neun Jahre vor Bolsonaros Wahlkampf und -sieg 2018 auf die Idee zu ihrer Utopie vom Gemeinwohl bzw. Dystopie über den Schusswaffenkult kamen. Das Drehbuch, erzählte Kleber Mendonca Filho gern in Interviews, brachte anfangs viele Leser zum Lachen, das ihnen nach 2018 dann verging. Mithin ein ahnungsvoller Film (ich musste oft an den französischen Begriff für Science Fiction denken, "film d' anticipation"). Bei der Tonmischung erfuhren sie, dass die Wirklichkeit ihren Film bizarr einholte. Bacurau verschwindet plötzlich von den Landkarten, die auf Tablets zu sehen sind, nur auf der alten Karte im Klassenzimmer existiert der Ort noch. Die Bolsonaro-Regierung ließ etliche Ortschaften von der Landkarte tilgen, in denen Indigene leben, um dort einen rechtsfreien Raum zu schaffen, der ausgebeutet werden kann. Dieser Film, der in "ein paar Jahren" spielt, braucht nicht bis morgen zu warten.
Auf den Plakaten wurde »Bacurau« offensiv als ein "Film des Widerstands" beworben. In Mendonca Filhos früheren Film fand dieser tendenziell friedlich statt, war raffiniert und fintenreich. Hier wehrt sich die Zivilgesellschaft zusätzlich um den Preis, selbst barbarische Mittel einzusetzen (achten Sie nur einmal auf die Wand im örtlichen Museum, die plötzlich leer ist, weil die Ausstellungstücke gebraucht werden). Anfangs wird die Kampfbereitschaft beim Tanz eingeübt, der übergeht in das elegant- martialische Caporeia. Für einen Moment scheint der Widerstand ein Kinderspiel zu sein, wer sich am Weitesten in die Nacht hinaus traut. Man braucht starke Nerven, um auszuhalten, was danach kommt. »Bacurau« ist mit allen Wassern des Hollywood-Actionkinos gewaschen, namentlich inspiriert von Zivilisationsbruchthrillern wie »Beim Sterben ist jeder der Erste« und »Southern Comfort«. Jäger und Opfer gehen eine bezwingende visuelle Verbindung ein; die Plansequenzen vermessen eine auch moralische Topographie. »Bacurau« wirft mithin die Frage nach der kathartischen Wirkung der Gewalt auf: eine Apologie der Selbstverteidigung, voller finsterer Überraschungen. Wie bei Kurosawa widersprechen Kinetik und bekümmerter Humanismus einander nicht. In Brasilien gab es viel Szenenapplaus (ein Phänomen, das ich mit diesem Regisseur schon einmal erlebt habe, siehe "Konzert der Claquere" vom 23.11. 2016). Am lautesten klatschte das Publikum jedoch während des Abspanns. "Dieser Film hat 800 Arbeitsstellen geschaffen", verkündet ein Titel, "Die Kultur ist zugleich eine Industrie und eine Identität."
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