Kritik zu Anima – Die Kleider meines Vaters

© Farbfilm Verleih

2022
Original-Titel: 
Anima – Die Kleider meines Vaters
Filmstart in Deutschland: 
20.10.2022
L: 
94 Min
FSK: 
6

Uli Decker erkundet das Doppelleben ihres Vaters, der heimlich Frauenkleider trug, ohne das Privileg von Archivaufnahmen, dafür mit viel Einfallsreichtum

Bewertung: 5
Leserbewertung
5
5 (Stimmen: 1)

Es gibt nur sehr wenige Filme, die klüger, witziger und vielfältiger über geschlechtliche Diversität nachdenken als dieser. Wenn überhaupt. Als Uli Decker nach der überaus erfolgreichen Premiere beim Max-Ophüls-Preis das Kino verließ, sagte sie als Erstes: »Sorry, ich muss aus diesen Schuhen raus.» Zu ihrem schicken Hosenanzug trug sie hochhackige Schuhe, die sie ohne Scheu noch im Flur des Kinos gegen bequeme Stiefeletten eintauschte. Kleider und Geschlechtlichkeit sind bei aller vordergründigen Trivialität eben bis heute ein gesellschaftliches Thema. Und tatsächlich hatte man ja bis dahin, nur den Titel des Films und den Namen der Regisseurin vor Augen, nicht einmal gewusst, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. 

In ähnlicher Weise wurde ihr Vater in seiner bürgerlichen, ländlich oberbayrischen Welt immer als Mann, des Nachts in den Straßen von München jedoch als Frau wahrgenommen. Die Leidenschaft, Frauenkleider zu tragen, lebte er heimlich aus, nur seine Frau wusste etwas davon. Und das auch nicht von Anfang an. Erst als es sich nicht mehr leugnen ließ, offenbarte er, dass die weiblichen Dessous, die sie im Schrank gefunden hatte, nicht einer möglichen Geliebten, sondern ihm selbst gehörten. Aber die Mutter akzeptierte ihren geliebten Mann so, wie er war, und schwieg, auch vor den Töchtern, und so erfuhr Uli Decker erst nach dem Tod des Vaters von dessen Doppelleben.

Schlagartig wurde ihr klar, dass auch sie sich nie so eindeutig als Mädchen und Frau gefühlt hatte wie etwa ihre jüngere Schwester. Natürlich gab es keine Bilder vom Vater in Frauenkleidern, geschweige denn Filmaufnahmen, und so machte sie sich auf die Suche nach Zeugen, Menschen, die ihr erklären sollten, was der Vater nicht mehr konnte. Denn er war an den Folgen eines Unfalls gestorben, bei dem ein paar Jungs zum Scherz ein Seil über einen Radweg gespannt hatten. 

Uli Decker aber findet kreativen Ersatz: Sie spricht mit Angehörigen, mit Freunden der Familie, zeigt das Umfeld ihres Vaters und die Fernsehnachrichten, die den tragischen Tod meldeten. Dazwischen setzt sie collagierte, gezeichnete und animierte Szenen und Fotos und macht so deutlich, dass das Private eben nicht nur privat, sondern zu einem wichtigen Teil auch öffentlich ist. 

Im engsten Kern dieser familiären Strukturen liegt eine große gesellschaftliche Wahrheit. Dabei geht es nur vordergründig um Kleider und deren gesellschaftliche Konnotation. Jeder weiß, wie wichtig Moden, Stile und Ausdrucksformen der jeweiligen Kleidung sind. Hier geht es um mehr. Decker zeigt auf ungeheuer leichte und immer wieder humorvolle Weise, wie variantenreich sexuelle Identität sein kann, die sich noch nie auf das binäre Modell Mann / Frau beschränken ließ. Sie zeigt die vielen Möglichkeiten von Graustufen auf und hilft damit, einen Weg hinauszufinden aus jenem Schwarz-Weiß-Denken, das die Welt ihres Vaters noch bestimmte. In Saarbrücken bekam sie dafür den Max-Ophüls-Preis für den besten Dokumentarfilm. Nun bleibt nur noch zu hoffen, dass ihn möglichst viele Menschen sehen werden.

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