Kritik zu Alcarràs – Die letzte Ernte
Das Porträt einer Großfamilie fesselt durch die genaue Beobachtung des landwirtschaftlichen Lebens, der familiären Dynamik und ein fantastisches Laienensemble
Pfirsichbäume, so weit das Auge reicht. Wind, der sanft durch Blattwerk raschelt. Regen, der auf das Land hinunterprasselt. Das rot-gelbe Leuchten der reifen Früchte. Immer wieder verweilt der Blick auf der Schönheit dieser Obstplantage in Alcarràs im Nordosten Spaniens. Seit Jahrzehnten werden hier von der Familie Solé Pfirsiche angebaut, gehegt und geerntet. Es ist ein hartes Geschäft für alle Beteiligten und die Existenzgrundlage von drei Generationen. Doch die Tage der Plantage sind gezählt. Der Vater von Opa Rogelio (Josep Abad) hatte einst im Spanischen Bürgerkrieg die Großgrundbesitzer versteckt und ihnen so das Leben gerettet. Als Dank dafür wurde das Land damals an die Familie Solé übergeben, per Handschlag. Einen schriftlichen Vertrag gibt es nicht. Jetzt hat der offizielle Grundbesitzer Pinyol neue Pläne und teilt den Solés mit, dass die Plantage nach der letzten Ernte einem Solarpark weichen muss.
»Alcarràs – Die letzte Ernte« gewann überraschend den Goldenen Bären bei der diesjährigen Berlinale. Überraschend deswegen, weil das ausschließlich mit Laien besetzte und langsam erzählte Familienporträt kein kontroverser Film und nur in Ansätzen politisch ist. Das Interesse von Regisseurin Carla Simón richtet sich ganz auf die generationenübergreifende Dynamik der Großfamilie und die landwirtschaftliche Arbeit, was auch den Reiz des Films ausmacht. Simóns eigene Familie bewirtschaftet selbst eine Obstplantage in Spanien. Sie kennt die Region und die Menschen vor Ort und hat für ihren zweiten Langfilm in verschiedenen Dörfern ein fabelhaftes Laienensemble gecastet. Unter ihrer Schauspielführung wachsen ihre Darsteller*innen auf der Leinwand zu einer authentisch wirkenden Familie zusammen. Sie verkörpern glaubwürdig ein heutzutage seltenes familiäres Gefüge, bei dem mehrere Generationen zusammen leben und arbeiten.
Die innerfamiliären Konfliktlinien verlaufen dabei entlang der Generationen und der Geschlechter. Großvater Rogelio kann nicht fassen, dass der verbindliche Handschlag von einst nichts mehr wert sein soll, und versucht verzweifelt, an alte Versprechen anzuknüpfen, bis es ihm die Sprache verschlägt. Quimet (Jordi Pujol Dolcet), der die Plantage aktuell bewirtschaftet, verweigert sich schlicht der Realität, lässt seine ohnmächtige Wut und Verzweiflung an der restlichen Familie aus. Beide sind gebrochene Patriarchen und unfähig, ihre Gefühle zu artikulieren.
Quimets Kinder stehen dagegen für eine Generation im Aufbruch, die noch keine Pläne für die Zukunft hat. Sohn Roger (Albert Bosch) soll eigentlich für die Schule lernen, züchtet aber lieber heimlich im Maisfeld nebenan Marihuana. Seine jüngere Schwester Mariona (Xènia Roset) pubertiert und tanzt lieber TikTok-Videos nach, als Obst zu pflücken. Vor allem Mutter Dolors (Anna Otin) hält die Familie und den Betrieb zusammen. Sie macht einfach weiter, sucht nach Optionen für die Zukunft, greift den Männern nach Kräften unter die Arme, verpasst ihnen aber auch eine Ohrfeige, wenn sie komplett durchdrehen.
Die dokumentarisch anmutende Kamera von Bildgestalterin Daniela Cajías ist immer mittendrin im Geschehen und bewegt sich wie ein weiteres Familienmitglied durch die Szenen. Ob zwischen den Pfirsichbäumen, im Haus oder beim Dorffest, selten sind nur einzelne Protagonist*innen zu sehen. Das vermittelt – wenn es zu Konflikten kommt – eine gewisse Enge. In den harmonischen Momenten, wenn alle gemeinsam feiern, essen oder singen, suggeriert diese Nähe aber eine spürbare, liebevolle Geborgenheit. Die langen Einstellungen, die die Plantage menschenleer im Panorama zeigen, wirken dabei wie der Versuch, eine Gegenwart festzuhalten, die im Augenblick ihrer Betrachtung schon im Begriff ist zu vergehen.
Neben dem Nukleus Familie greift »Alcarràs – Die letzte Ernte« auch gesellschaftskritische Themen auf. In den Protesten und Demonstrationen von Quimets Kollegen, die angemessene Preise für ihre harte Arbeit und die Erzeugung unserer Lebensmittel fordern, spiegelt sich die ganze Problematik europäischer Agrarpolitik und die Verdrängung von Kleinbauern durch Großkonzerne. Auch in der erzählerischen Entscheidung, die Plantage einem fortschrittlichen Solarpark und eben keinem Golfplatz oder einem Luxushotel weichen zu lassen, liegt eine subtile Botschaft. Simón erinnert uns ohne selbst zu werten daran, dass die erneuerbaren, emissionsfreien Energien Platz brauchen und Menschen unter dem notwendigen Strukturwandel leiden werden. Für individuell Betroffene wie die fiktiven Solés spielt es keine Rolle, ob ihr Zuhause Solarpaneelen oder einem Braunkohletagebau weichen muss. Simóns Film ist so auch ein Statement dafür, dass es ein Happy End, mit dem alle glücklich sind, nicht geben kann.
Herausragend sind die Szenen, die nur von den hervorragenden Kindern getragen werden. Wie schon in ihrem autobiografischen Spielfilmdebüt »Fridas Sommer« beweist Simón ungeheures Einfühlungsvermögen in kindliche Erfahrungswelten. Wenn die Kleinsten der Solés, die die Sorgen der Älteren zwar spüren, aber noch nicht verstehen, sich ins Spiel und in ihre Fantasie flüchten, ist das auch eine Auszeit für uns als Zuschauende. Ähnlich wie zuletzt in Céline Sciammas »Petite Maman« steht hier die Zeit im Spiel still. Autowracks werden zu Raumschiffen, ein Wohnzimmer zur Zirkusmanege, Obstkisten zu Geheimverstecken. Im sorglosen Spiel beweisen die Kinder mehr Weisheit als die Erwachsenen. Während die aus Angst vor dem Morgen das Heute verpassen, leben die Kinder ganz im Augenblick, den sie genießen, solange er dauert.
Kommentare
Verwechslung
Da ich heute Gast bei der Premiere in München war, möchte ich Ihnen mitteilen, dass sie die Namen des Grossvaters und des ältesten Sohnes verwechselt haben. Der Grossvater heißt Rogelio und wird von Josep Abad gespielt und der älteste Sohn heißt Roger und wird von Albert Bosch gespielt. Ansonsten gefällt mir ihre Kritik aber sehr gut.
Vielen Dank für den Hinweis.
Vielen Dank für den Hinweis. Die entsprechenden Angaben im Text wurden abgeändert. Liebe Grüße aus der Redaktion.
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