Bilder, die Flügel haben
Ein französischer Kollege berichtete mir einmal von ihrer Unermüdlichkeit. So etwas wie Jet lag kannte Agnès Varda nicht, sie konnte sich auf jede Zeitzone einstellen und blieb allerorten wach. Die beneidenswerte Gabe, stets in Topform zu sein, deutete er augenblicklich um in eine künstlerische Haltung: ihre unbeirrbare Neugier auf die Gegenwart.
In der Tat war diese Filmemacherin stets pünktlich zur Stelle. Etwa auf Kuba kurz nach der Revolution; ein paar Jahre später filmte sie in den USA die Black Panther, hatte danach Teil am feministischen Aufbruch daheim in Frankreich, setzte sich in den 1980ern mit dem Problem der Obdachlosigkeit auseinander, das zu diesem Zeitpunkt noch kaum ein Kinothema war und nahm zu Beginn des Jahrtausends eine der ersten Digitalkameras in die Hand, um die moderne Wegwerfgesellschaft in den Blick zu nehmen. Der Nouvelle Vague kam dieser Pilotfisch sogar zuvor, um ein paar entscheidende Jahre, in denen sie im französischen Kino praktisch allein stand. Nachdem ich die wunderbare Schau gesehen habe, die ihr das „Silent Green“ im Berliner Wedding gerade widmet („Das dritte Leben der Agnès Varda“, noch bis zum 20. 7.) frage ich mich, warum ich diesen Absatz in der Vergangenheitsform geschrieben habe. Ihre schöpferische Vitalität ist ganz gegenwärtig.
Dieses „dritte Leben“ meint ihre Arbeit als bildende Künstlerin, die sie 2003 auf der Biennale in Venedig als Kartoffelutopistin begann. Sie hätte wohl den Begriff visual artist vorgezogen, aber ihr Schaffen nimmt eminent plastische Form an. Ohne die ersten zwei ist dieser dritte Akt natürlich nicht zu haben. Aber warum sollte man sie auch trennen? Sie überschneiden sich. Als Filmemacherin hört sie nicht auf, Fotografin zu sein, und nach 2003 dreht sie weiterhin Filme: Sie will noch immer herausfinden, was das Kino sein kann. Die von Dominique Bluher und Julia Fabry kuratierte Ausstellung führt auch vor Augen, wie sich diese unterschiedlichen Aktivitäten gegenseitig befruchten.
Die Wiederverwertung ist hierbei ein entscheidender Impuls. Ihre Begeisterung für herzförmige Kartoffeln, die in der industriellen Landwirtschaft als unverkäuflich ausgemustert werden, wird beispielsweise geboren während der Arbeit an „Die Sammler und die Sammlerin“. Nun hält sie fotografisch fest, wie deren Anmut sich mit der Zeit wandelt, wie sie neue Keime bilden, sozusagen postum noch austreiben. Das Anknüpfen an frühere Arbeiten ist nicht nur ein Faible, sondern eine besondere Gabe. Sie aktualisiert, erneuert Erfahrungen. In ihrem Film „Ulysse“ von 2012 betrachtet sie ein 1954 gemachtes Foto neu und stellt es in verblüffende biographische (die der Abgebildeten und auch die eigene) und historische Kontexte (die offiziellen Feiern des Weltkriegsendes, der Fall von Dien Bien Phu). Andere Fotos stellt sie ins Zentrum eines Triptychons, deren Flügel neu gefilmte Bewegtbilder sind. Auch ausgemusterte Filmstreifen haben bei Madame Agnès ein Nachleben. Sie fängt 2006 an, aus ihnen die Wände und Dächer von Hütten
zu konstruieren. Die erste nennt sie die „Hütte des Scheiterns“, sie ist mit Kopien von „Die Geschöpfe“ errichtet, der 1966 ein Misserfolg an der Kinokasse ist. Im Innenhof des „Silent Green“ kann man die letzte Variante besichtigen, die das Zelt von Sandrine Bonnaire in „Vogelfrei“ evoziert. Man kann sich sogar hineinlegen und zuschauen, wie das Licht durch das Zelluloid fällt. Aus solchen Arbeiten spricht ein tiefer Respekt vor dem Material, das nach seiner ursprünglichen Nutzung nicht verschwinden soll. Ihre Arbeit ist ein Akt der Bergung: dessen, was man gemeinhin übersieht oder ad acta legt. Dem spielt der kluge, gewitzte Katalog zu, in dem man viel mitnehmen kann aus einer Ausstellung, obwohl sie sich in besonderer Weise in Raum und Zeit manifestiert.
Die Ausstellung ist eine Zusammenschau des erstaunlichen Tatendrangs, der sich mit der Entdeckung neuer Medien und Formen (aber auch alter Techniken) Bahn bricht: eine Summe, ein Best of. Aber keine Bilanz: Irgendwie erwartet man von dieser Künstlerin, dass sie mit weiteren Überraschungen wiederkehrt. Nicht zu Unrecht: Die Kuppelhalle des ehemaligen Krematoriums in Wedding wird erst in den letzten zehn Tagen der Schau bespielt, wenn ihre „Hommage an die Gerechten Frankreichs“ installiert wird. Das Rahmenprogramm der Schau ist umfangreich. Dazu gehört neben Vorträgen und Diskussionen eine Retrospektive im Berliner Arsenal; als wir die Schau am Wochenende besuchten, fand ein Workshop für Kinder statt („Bildersammeln mit Agnès Varda“), am nächsten Wochenende gibt es eine Super-8-Film-Werkstatt.
Einige der Exponate habe ich schon in der Fondation Cartier in Paris gesehen, genauer: erlebt, wenngleich in anderer Gestalt, beispielsweise das Grab ihrer geliebten Katze Zgougou. Die „Ouvertüre“, eine Installation mit Projektion auf den Vorhang, durch den es in die große Betonhalle geht, nahm in Paris einen anderen Charakter an, der zugleich dirigistischer und spielerischer war. Da war die Ouvertüre noch stärker als Passage erlebbar. Man sieht Bilder von der Landverbindung zur Insel Noirmoutier, auf der Varda und ihr Ehemann Jacques Demy in ihrer Mühle wohnten und arbeiteten. In Paris durfte man sie erst bei Ebbe durchschreiten. Im „Silent Green“ wiederum fungiert die Installation als ein gestalterisches Motto, das drei Elemente zusammenführt, Himmel, Meer und Erde. (Mit dem Ort, dem ehemaligen Krematorium, gesellt sich insgeheim das Feuer hinzu). Den Sand auf dem Boden darf man betreten, kann ihn durch die Finger rinnen lassen oder Burgen mit ihm bauen. Das Meeresrauschen, das man schon durch den riesigen Lamellenvorhang hörte, ist verlockend. Die Silhouette von Madame Agnès, die man hier sieht, erinnere ich nicht aus Paris.
Die Installation über die Witwen von Noirmoutier hingegen kannte ich nur in ihrer filmischen Variante, die vor Jahren einmal auf arte lief. Hier ist sie ein vielstimmiges Raumerlebnis. Vor der Projektion stehen 14 Stühle mit Kopfhörern, auf denen man die Zeugnisse der 14 Witwen hören kann. Sie sind, der Aufteilung der Projektion entsprechend, als Viereck angeordnet. Aber wenn man von einem Stuhl zum nächsten rückt, fühlt man sich wie in einem Kreis. Die Kunst der Agnès Varda ist auch eine der Nachbarschaft, der neugierigen Teilhabe am Leben der anderen. Sie ist eine Einladung zur Vertraulichkeit. Ein bewegend intimer Moment war es für mich, einige Postkarten zu lesen, die sie an die Grabstätte ihres Mannes auf dem Friedhof Montparnasse adressiert hatte.
Ich glaube, die Serie von Fotos, die sie 1960 im Auftrag einer Zeitung im fränkischen Dinkelsbühl machte, sind nie zuvor ausgestellt worden. Sie ist staunenswert, kommt ohne einen Hauch von touristischem Blick aus. Das spätmittelalterliche Stadtbild interessiert sie kein bisschen. Bei der Reportage ging es ursprünglich darum zu zeigen, ob und wie fünfzehn Jahre nach Weltkriegsende sogenannte Ostflüchtlinge eine neue Heimat gefunden haben. Dieser historische Kontext ist in einigen der Aufnahmen noch zu erahnen, als verschwiegener Kulturschock. Varda ist fasziniert von der Interaktion, der Menschen untereinander und auch mit ihrem Ambiente. Merkwürdig, dass diese Serie bisher so unbekannt war, zeigt sie doch mustergültig ihre Qualitäten als Fotografin: ein achtsames Spiel mit Raum und Perspektive, Vorder- und Hintergrund, ein Neben- und Gegeneinander lebhafter visueller Appelle. Humanistische Fotografie nannte man das nach dem Krieg, heute ist es ein Zeugnis ihrer Schaulust und Zeitgenossenschaft. Varda war pünktlich zur Stelle, um die „kleinen Metiers“ der Leute festzuhalten, ihren unspektakulären Alltag, der einem anderen Kameraauge bestimmt nicht so reich erschienen wäre wie ihrem.
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