Kritik zu Holy Motors
Eine weiße Stretch- Limousine gleitet durch die Straßen von Paris. Im Fond des von einer mysteriösen Lady gesteuerten Wagens sitzt ein Mann, verkörpert von Denis Lavant. Jedes Mal wenn er das Auto verlässt, wird er ein anderer sein. Leos Carax bizarre Odyssee eines langen Tages ist ein poetisches Meisterwerk
Es gibt im neuen Film von Leos Carax vier geheimnisvoll schimmernde Hauptdarsteller. Da ist natürlich zuerst Denis Lavant, der schon in Die Liebenden von Pont Neuf für Carax gespielt hat. Jetzt stellt er Monsieur Oscar dar, einen Mann, der auf existentieller Weise in verschiedenen Rollen schlüpft. Mit unglaublichem körperlichem Einsatz und auf den Spuren der großen Pantomimen gibt Lavant einen Schauspieler auf Leben und Tod. Neben Lavant ist Edith Scop zu sehen, eine große, immer noch unterschätze Aktrice des französischen Kinos. Seit sie in George Franjus legendärem Augen ohne Gesicht (1959) gespielt hat, ist die Scob mehr als Kult: sie ist, was die französischen Cinephilen eine femme du cinema nennen, ein mythisches Kinowesen. Jetzt gibt sie, die die 70 schon überschritten hat, die elegante, alterslose Chauffeurin Céline, die Denis Lavant mit poetischer Sachlichkeit wie eine Sekretärin Gottes auf seinem ultimativen Paris- Trip begleitet. Der dritte Hauptdarsteller ist die schneeweiße Stretch- Limo, ein weißer Wal auf Rädern, in dem Lavant und Scob durch Paris schweben. Am Ende wird diese Art von Limousine, die zurzeit auch einen großen Auftritt in Cronenbergs Cosmopolis hat, sogar in surrealistischer Manier einen melancholischen Epilog sprechen. Die überlange Limo ist ein ordinäres, irgendwie trauriges Gefährt voll von kafkaeskem Luxus. Sie wirkt wie der letzte Aufschrei des Straßenkreuzers, wie ein Abgesang auf große, schöne Mechanik. Bei Carax korrespondiert die Stretch- Limo unterschwellig mit den großen, alten Filmkameras, die längst verschwunden sind und kleinen, fast unsichtbaren Kameras Platz gemacht haben, die das ganze leben zum Schauspiel machen. Der vierte Hauptdarsteller ist die Stadt selbst: Paris, vu par Carax. Es ist ein seltsam leuchtendes Paris der nahen Zukunft, wo das Künftige bereits vom Verfall geprägt ist, beinahe eine Nekropolis, die sich verzweifelt geschäftig zeigt. Auf den Grabsteinen der Friedhöfe stehen keine Namen mehr, sondern Websites, als sei man nicht einmal im Tode angekommen. Vielleicht ist die Limousine nur ein rollender Grabstein, on the road durch die Seine- Metropole.
Der Film beginnt mit einem Prolog. Ein Mann, von Carax selbst gespielt, erwacht in einem Hotelzimmer. Durch eine Geheimtür gelangt er in ein vollbesetztes Kino, in dem ein Film aus den ersten Tagen der Filmgeschichte läuft, eine Bewegungsstudie von Etienne- Jules Marey. Nach dieser düster- träumerischen Ouvertüre beginnt die eigentliche, fantastische Geschichte: die innere und äußere Bewegungsstudie des merkwürdigen Monsieur Oscar. Im Morgengrauen beginnt seine so wunderliche und unheimliche Reise, die ihn, begleitet von Céline, bis ans Ende der Nacht führen wird. Als Finanzboss besteigt Oscar die allzu protzige Limo. Nachdem er noch über die Gefährdung der Finanzmanager räsoniert hat, beginnt die erste unglaubliche Verwandlung des Films. In Paris angekommen verlässt Monsieur Oscar als uralte, osteuropäische Bettlerin die Limousine. Der Finanzmanager und die Bettlerin als zwei Facetten einer Figur: das ist eine komplexe, bizarre Idee, von Lavant furios umgesetzt, die dem Zuschauer den Boden unter den Füßen hinwegzieht.
Zehn irrwitzige Verwandlungen durchläuft Monsieur Oscar an diesem Tag. Zehn Aufträge sind das, ausgestellt von einer unsichtbaren Macht. Oscar erfüllt diese Kontrakte des Schicksals: wie ein perfekter Killer oder wie ein männliches Callgirl für extreme Rollenspiele. In einer Verwandlung wird er zu einem Scheusal namens "Merde", in dem sich der Glöckner von Notre Dame und Barraults Mr. Hyde aus Das Testament des Dr. Cordelier verbergen. Als "Merde" entführt er ein Top Model, gespielt von Eva Mendes, in die Kanalisation von Paris, wo er die Schöne abwechselnd zu einer Burka tragenden Super- Muslima und einer sexy Madonna stilisiert. Wenn er sich in ihren Schoß kuschelt, ergibt dies eine großartige Comic- Pieta. Die schönste und zugleich traurigste Verwandlung führt Monsieur Oscar mit Kylie Minogue zusammen, die eine Stewardess oder einen Engel spielt. Ihr Zusammentreffen im verfallenen Kaufhaus "la Samaritaine" inszeniert Carax als spektakuläres film- noir- Musical über die verlorenen Chancen des Lebens. Allein wegen dieser Episode möchte man Carax´ Film noch einmal sehen. Man möchte dann den vielfältigen Rätseln des Films auf die Spur kommen. Man möchte aber vor allem die verstörende Schönheit des Films noch einmal erleben.
Unzählige literarische, kunst- und film- historische Einflüsse durchziehen Holy Motors. Die größte Inspiration rührt aber von dem Französischen Regisseur Georges Franju (1912- 1987) her. Es ist nicht nur so, dass Carax die Filme Franjus zitiert, etwa La premiere nuit oder den Pariser- Thriller Augen ohne Gesicht, aus dem die Maske stammt, die sich Edith Scob am Ende aufsetzt. Carax sieht sich vielmehr in der einzigartigen Kino- Tradition des visionären Außenseiters Franju. Um die sozialen, religiösen und technischen Gegebenheiten unserer Zeit ästhetisch zu erfassen, kombiniert Carax wie einst Franju Realismus und Fantasie, Zärtlichkeit und Polemik, Fetischismus und Erkenntnis.
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