Die Macht des Einzelnen

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Fatih Akin, einziger deutscher Regisseur im Wettbewerb des 71. Filmfestivals von Venedig, stellt seinen neuen Film The Cut vor, ein mutiges Epos über den ottomanischen Völkermord an den Armeniern

 

Fatih Akins neuer Film gehört zu den wenigen Titel im diesjährigen Festivalprogramm von Venedig, über die schon im Vorhinein viel diskutiert wurde. Wobei aber ganz unterschiedliche Aspekte im Vordergrund standen: für die deutschen Medien, dass er der einzige deutsche Regisseur im Wettbewerb ist; für die türkischen Medien, dass Akin in The Cut ein Thema aufgreift, das im Geburtsland seiner Eltern, der Türkei, noch immer ein Tabu darstellt, dessen Benennung als Genozid allein schon hitzige Reaktionen auslösen kann. Für den Rest der Welt zählt wohl am meisten, ob der Regisseur, der vor zehn Jahren mit Gegen die Wand in Berlin den Goldenen Bären gewann, den großen Erwartungen, die er seither nie mehr ganz erfüllen konnte, endlich gerecht werden kann.

The Cut ist als großes Epos angelegt. Anhand des Schicksals eines Mannes führt Akin darin den Genozid an den Armeniern in vielen Details vor Augen. Zu Beginn, im Jahr 1915, steht das multikulturelle Familienidyll in Mardin, einer Stadt im Südosten des ottomanischen Reiches. Schreckensnachrichten über Deportationen machen die Runde, als bald auch Nazaret (Tahar Ramin) von türkischen Milizen zur Zwangsarbeit abgeführt wird. Beim Straßenbau in der Wüste wird er Zeuge der bekannten Todesmärsche und -Lager, erlebt Willkür, Vergewaltigung und Massaker. Dem eigenen Tod entgeht er nur durch das Missgeschick des Schergen, der ihm die Kehle durchschneiden soll und dabei lediglich die Stimmbänder trifft. Nazaret überlebt und landet als Flüchtling in Aleppo. Nach Kriegsende erfährt er, dass seine beiden Töchter noch am Leben sein könnten und macht sich auf die Suche, die ihn über Cuba in den Norden der USA führen wird.

Einmal mehr ist auch bei Fatih Akin der Weg das Ziel. Seine Spannung zieht The Cut nicht aus dem von Beginn an ziemlich absehbar erscheinenden Ausgang der Geschichte, sondern daraus, was Nazaret auf seiner Reise widerfährt. Er ist ein passiver Held, durch den Kehlschnitt bald zum Inbegriff des "stummen Zeugen" verurteilt. Der französische Schauspieler Tahar Ramin (bekannt durch Der Prophet) verleiht seiner Figur durchweg einen trotzigen Stolz, der ihn bei allen Rückschlägen nicht aufgeben lässt. Hochkarätig besetzt ist die Reihe der Figuren, denen Nazaret auf seiner Reise mal im Guten, mal im Schlechten begegnet, vom Franzosen Simon Abkarian über die Dänin Trine Dyrholm bis zum Deutschen Moritz Bleibtreu.  

Akin gelingt es dabei bestens, die Situationen auf Leben und Tod eindringlich und dabei ganz ohne ethnische Stereotypie zu schildern. Was heute oft als absolute Setzung im Vordergrund steht, die religiöse Zugehörigkeit, unterspielt er geschickt – und angemessen. Der Triumph seines Films besteht darin, darauf zu bestehen, dass Menschen sich nicht dadurch unterscheiden, ob sie zu Allah beten oder ein Jesu-Kreuz-Tattoo tragen, sondern allein durch ihre Handlungen. Die guten wie die Gräuel-Taten zeigt Akin als Aktionen von Individuen, nicht als Ergebnisse einer anonymen Befehlsmaschinerie. So leistet der Dieb, der beauftragt war, Nazaret die Kehle durchzuschneiden, später eine Art Sühnedienst an ihm. Die türkischen Deserteure, die als Wegelagerer zwischen den Kriegsfronten ihr Unwesen treiben, versuchen ihre Opfer trotz allem menschlich zu behandeln. Später muss Nazaret erleben, dass es Vergewaltigungen an ethnischen Minderheiten auch in den USA gibt.

Mit seinem weiten Spektrum von Orten kann Akin sein Talent für große Panoramaszenen zeigen, für die atmosphärische Etablierung ganz verschiedener Orte und Zeiten, sei es Aleppo um 1918 oder Havanna um 1922. Schwächen zeigt Akin bei der Zeichnung seiner Figuren, die mehr bestimmte Ideen repräsentieren denn als Charaktere lebendig werden. Trotzdem berührt The Cut sein Publikum allein durch Akins mutiges Anliegen, ein zu oft marginalisiertes Verbrechen offensiv als solches zu benennen.

Eine andere Frage ist, ob Akin mit The Cut  tatsächlich Chancen auf einen Goldenen Löwen besitzt. Starke Konkurrenz hat er etwa im Franzosen Daniel Oelhoffen und seinem Algerienkriegsdrama Loin des hommes. Wie Akin greift auch Oelhoffen klassische Westernmotive auf: Viggo Mortensen (Herr der Ringe) spielt einen französischen Dorflehrer im algerischen Atlasgebirge, der als eine Art Hilfssheriff den Auftrag erhält, einen des Mordes überführten Araber in die nächste Stadt bringen. Gejagt von auf Blutrache sinnenden Cousins und lynchwilligen Franzosen geraten die beiden Männer zwischen alle Fronten und Kriegsparteien.

Wo Akin das große Panorama entwirft, setzt Oelhoffen auf stilles, aber intensives Männerdrama. Beiden Filme gemein ist dabei, dass sie den Überlebenswillen des Einzelnen feiern - und den Versuch, menschlich zu handeln in unmenschlichen Zeiten.

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