Kritik zu Abteil Nr. 6
Zwei Protagonisten aus unterschiedlichen Welten lernen sich auf einer Zugreise durch den kalten russischen Norden näher kennen: Juho Kuosmanen gelingt ein zart-poetischer Film über soziale Unterschiede, die russische Landbevölkerung – und die Liebe
Das Unbehagen ist ihr deutlich anzumerken. Laura (Seidi Haarla) fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut, wie als hätte sie auf dieser Feier unter all diesen Menschen ihre innere Orientierung verloren. Uns Zuschauer*innen geht es zu Beginn des Films ähnlich. Regisseur Juho Kuosmanen wirft uns mitten hinein in das Geschehen, verweigert die Etablierung von Ort und Zeit. Noch bevor die Zugreise überhaupt beginnt, befindet sich in diesem Film alles in Bewegung. Wir sind dazu gezwungen, die Verhältnisse zu ordnen, ja streng genommen überhaupt erst mal die Hauptfigur zu identifizieren. Geschickt, wie der finnische Filmemacher das Innere seiner Protagonistin allein durch die Form zu unserer Empfindung werden lässt.
Aber machen wir es nicht unnötig kompliziert: Der Ort ist Moskau. Die Finnin Laura ist nach Russland gekommen, um die Sprache zu lernen. Ihre Liebhaberin Irina, offenbar Professorin für Literatur, lebt das Leben der Intelligenzija – Altbauwohnung, überall Kunst an den Wänden und Gespräche über Literatur. Eigentlich hätte es gemeinsam mit Irina nach Murmansk am nördlichen Polarkreis gehen sollen, um sich dort die berühmten Petroglyphen anzuschauen. So war der Plan. Doch Frau Professorin muss plötzlich arbeiten und so steigt Laura allein in den alten klapprigen Zug. In ihrem Schlafabteil trifft sie auf den jungen und zunächst ziemlich ungehobelt erscheinenden Bergarbeiter Ljoha (Yuriy Borisov). Der stellt sofort die Flasche Schnaps auf den Tisch und beißt genüsslich in eine mitgebrachte Wurst.
Die Finnin ist von dem lauten Kerl überhaupt nicht angetan. Als er sie beim Versuch, mit Händen und Füßen zu sprechen, betatscht, reicht es. Den Zwischenhalt in St. Petersburg will sie nutzen, um die Reise abzubrechen. Das Telefonat mit Irina – geführt an einem Münztelefon, da der Film in den 90ern spielt – verläuft allerdings derart unterkühlt, dass Laura wenige Augenblicke später also doch wieder im Abteil mit ihrem verhassten Reisebegleiter sitzt.
Dies ist der Beginn eines charmant-witzigen Roadmovies auf Schienen, das seine Magie aus der kargen Poesie seiner gegenüber den feinen Unterschieden aufmerksamen Bildern zieht. Außergewöhnliches passiert auf diesem begrenzten Raum nicht, wenn man darunter die großen Dinge, die Pauken und Trompeten versteht. All das ist Juho Kuosmanens Sache nicht. Vielmehr verzichtet der Filmemacher auf die genretypischen großen Wendungen und pathetischen Einsichten einer Reise, die wir sonst so gewohnt sind. Die Lakonie beherrscht die Atmosphäre wie der Schnee, der das Land herunterdämpft.
»Abteil Nr. 6« ist einer dieser Liebesfilme für Leute, die Liebesfilme hassen. Vor allem aber ist es ein Film über Klassenunterschiede und Vorurteile, über die Sehnsucht danach, jemand anders zu sein, und die Rollen, die wir dabei spielen. So grob Ljoha am Anfang auch erscheinen mag, so sehr offenbart sich dieses Verhalten als seine eigene Art, mit seiner Unsicherheit umzugehen. Da spricht und handelt jemand durch Sätze und Gesten seiner Herkunft. Dahinter liegen unendliche Möglichkeiten und andere Leben, die in seinen Augen aufblitzen, wenn er Laura begehrt. Während sich Laura in eine aufgesetzte Intellektualität flüchtet, panzert sich der Proletarier also mit selbstbewusster Kopflosigkeit. Nach und nach werden beide sich ihrer Rollen entledigen müssen. Auf so engem Raum, der sich durch Eis und Schnee und Zeit bewegt, geht das gar nicht anders.
Eine lange Zeit filmt Laura ihre Eindrücke mit einer analogen Kamera. Es handelt sich um ein Reisetagebuch, das ihr erlaubt, sich zu distanzieren, indem sie Bilder für Irina inszeniert. Eine nostalgische Melancholie breitet sich aus, noch bevor die Reise vorüber ist. Dann wird die Kamera gestohlen. Was bleibt, ist das Hier und Jetzt in diesem klapprigen Zug, eine reine Gegenwart, in der Irina diesen Ljoha mit anderen Augen sehen kann. »Abteil Nr. 6« feiert den Moment, ohne ihn zu überhöhen.
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