Ein Vater wird adoptiert
Einige von ihnen lächeln verlegen, bevor sie antworten. Ihre Schüchternheit vor der Kamera überrascht, müsste die Jugend von heute nicht viel mediengewandter sein? Andere treten in der Tat selbstbewusster auf, zögern keine Sekunde, ihre Überzeugungen kund zu tun.
Sie stammen aus sämtlichen Winkeln und Gesellschaftsschichten Italiens, leben in der Großstadt oder auf dem Land. Die meisten sind dort geboren, ein paar aber auch dorthin geflüchtet, einmal werden Kinder befragt, die aus Roma-Familien stammen. Auskunftsfreudig sind sie, zum Glück dieses Films, allesamt. Sie blicken der Ungewissheit ins Auge und sagen so denkwürdige Sätze wie "Wenn die Landwirtschaft stirbt, stirbt alles." oder "Das Morgen müssen wir erst wieder aufbauen." Ein Junge behauptet: "Die Zukunft macht mir keine Angst. Ich habe Schlimmeres gesehen."
Pietro Marcello, Francesco Munzi und Alice Rohrwacher haben für ihren Dokumentarfilm Film »Futura« das gesamte bel paese besucht und sind dabei einer berühmten Spur gefolgt, der von Pier Paolo Pasolinis »Gastmahl der Liebe«. Pasolini fragte seine Landsleute nach der Liebe, seine Nachfolger befragen die Generation ihrer Kinder nach der Zukunft. Beides verbindet sich mit der Sehnsucht nach Erfüllung. Ein einhelliges Bild entsteht in beiden Filmen redlicherweise nicht. Ihre Stärke ist die Vielfalt der Stimmen. Alte Geschlechterbilder wirken fort, neue wollen sich Bahn brechen. Die Befragten sind mit den Traditionen ihres Landes vertraut, aber bereit, aus ihnen auszuscheren. Sie finden, dass nicht nur Erwachsene Vorbilder sein können: "Die Leute überschätzen die alten Zeiten, weil sie die Gegenwart nicht verstehen."
»Futara« schillert zwischen den Zeiten, sucht nach dem Aufbruch und ist zugleich eine Geste der Kontinuität. Pasolini ist für dieses Schillern der ideale Gewährsmann. Der Filmemacher und Literat, der selbst eine außerordentliche Gabe zur Rechenschaft besaß, hat in den Jahrzehnten nach seinem Tod nie aufgehört, Zeitgenosse seines Landes und ihrer Gesellschaft zu sein. Das kann man jetzt, wenn sich am Samstag sein Geburtstag zum 100. Male jährt, vielfach überprüfen. Pünktlich zu diesem Termin bringt "Missing films" die 4-k-Restaurierung von »Mamma Roma« heraus, wo die Kamera Anna Magnani in langen Travellings auf ihren nächtlichen Streifzügen begleitet, ganz im Schlepptau ihres Temperaments, und dieses zugleich beharrlich analysierend. (Vorab läuft Pasolinis zweite Regiearbeit heute Nachmittag schon im Berliner Bundesplatzkino.) Von den öffentlich-rechtlichen Sendern hat sich anscheinend nur der rbb an ihn erinnert und zwei seiner Filme im Nachtprogramm versendet.
Dafür laufen bemerkenswerte Retrospektiven (ich würde mich freuen, wenn die Liste unvollständig wäre). Das B-Movie in Hamburg hat den Monat unter das Zeichen von "Pasolinis Italien" gestellt, die Retrosospektive umfasst neben seinen Filmen auch aktuelle Perspektiven (»Favolacce – Es war einmal ein Traum«, »Vor mir der Süden«) sowie Lesungen. Das Berliner Arsenal holt Pasolini ebenfalls in die Gegenwart zurück: Die Reihe »Comizi d' autore“« zeigt einige seiner Arbeiten im Doppel mit zeitgenössischen Filmen, die sich auf seine Spuren begeben.
Das Konzept der Kuratorin Hannah Pilarczyk ist bestechend. Die fünf Duette, die sie zusammengestellt hat, funktionieren als Doppelbelichtungen von Vergangenheit und Gegenwart. Besonders deutlich wird das selbstverständlich in dem eingangs erwähnten »Futura«, diesem Remake von »Comizi d'amore« (nicht das erste übrigens, seine enge Mitarbeiterin Cecilia Mangini hat Pasolinis Feldforschung im italienischen Alltagsleben bereits Anfang der 1980er wiederholt), der als Kollektivfilm entstand, also in einer solidarischen Arbeitsteilung, die Pasolini zu schätzen wusste. Einige Filme nehmen direkt Bezug auf ihn: In »Non è sogno« treten 2019 Gefängnisinsassen in die Fußstapfen von Ninetto Davola und Totò, den Protagonisten von »Che cosa sono le nuvole?« Andere begeben sich stilistisch und inhaltlich in Pasolinis Nachfolge, etwa Pietro Marcello mit »Bella e perduta“ - Eine Reise durch Italien«, der »Große Vögel, kleine Vögel« zugeordnet ist. Auch zwischen »Das 1.Evangelium – Matthäus« und »Glücklich wie Lazzaro« von Alice Rohrwacher bestehen offensichtliche Parallelen. Die heilige Einfalt ihres märchenhaften Titelhelden, der nichts Böses denkt und den bereits das Glück der anderen erfüllt, steht die Anklage feudaler Ausbeutung gegenüber. Das für Pasolini charakteristische, hellsichtige Nebeneinander von Pastoral und Unrecht prägt auch »Re Granchio« von Alessio Rigo de Righi und Matteo Zoppis.
Pasolini lenkt nicht den Blick dieser FilmemacherInnen, hat ihn aber ermöglicht. Er ist der Pilotfisch, der die Perspektive des Außenseiters auf Individuum und Gesellschaft geöffnet und ihr eine innere Freiheit gegeben hat. Sein Kino ist eine Ermutigung, auch Ermahnung, den eigenen Weg zu gehen. Das Anknüpfen an Traditionen ist dabei kein Widerspruch: »Lazzaro« und »Re Granchio« demonstrieren in Bilder und Tönen, dass der Neorealismus noch nicht ad acta gelegt werden muss. Das Archaische gewinnt in diesen aktuellen Filmen eine gestische Verbindlichkeit zurück. Sie sind lyrisch auf ungemein integre Weise. Die wundersame, nur halb idyllische Geräuschkulisse eines agrarisch geprägten Landes klingt vital in ihnen auf.
Die müßiggängerische Bereitschaft des heiligen Trinkers aus »Re Granchio«, das Ambiente auf seine Sinne wirken zu lassen, ist animierend, eine Dopplung zwischen Figur und Film. Seine Geliebte sieht, mit dem Blumenkranz im Haar, aus, als sei sie geradewegs Pasolinis »Trilogie des Lebens« entsprungen.
Rigo de Righi und Zoppis reflektieren die Fährnisse der mündlichen Überlieferung, die ohne das Fabulieren nicht auskommt. In »Futura« hingegen soll es um die unverfälschte Wahrheit gehen, aber verschwistert sind sie dennoch: Seine RegisseurInnen begreifen die Überlieferung ebenfalls als ein Terrain der Poesie. Das gilt auch noch, als die Pandemie die Dreharbeiten unterbricht. Die Maske ist kein Maulkorb, die Eloquenz der Mädchen und Jungen erlischt nicht. Aber die Aussichten verdüstern sich noch mehr. Ein erstaunlicher Befund des Films ist, wie wenige der Befragten sich eine Zukunft in Italien vorstellen können. Was hätte nur Pasolini davon gehalten? Das ist eigentlich die spannende Frage, die Doppelprogramme klären können: Wie werden seine Filme wohl auf die seiner Kinder antworten?
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