Die drei Wirklichkeiten

Die ukrainisch-orthodoxe Gemeinde in Bielefeld ist nicht sehr groß. Sie zählt etwa 200 Mitglieder und ist bestimmt viel kleiner als die ihrer russischen Nachbarn. Genau genommen handelt es sich um die ukrainisch-griechisch-orthodoxe Gemeinde. Am letzten Donnerstag, dem Tag, an dem sich alles änderte, lud sie kurzfristig zu einem Abendgottesdienst ein.

Eine Reporterin der "Lokalzeit" des WDR berichtete aus der Kirche. Sie flüsterte, um die kleine Schar der Gläubigen, die man ihm Hintergrund durch eine Glastür sehen konnte, nicht zu stören. Bei den kurzen Interviews, die sie mit gedämpfter Stimme führte, sagte ein männliches Gemeindemitglied einen Satz, der mir seither nicht aus dem Kopf geht. "Es ist genauso wie 1939", kommentierte er die Invasion seiner Heimat, "ein großes Land fühlt sich von einem kleinen Land bedroht."

Natürlich muss man bei historischen Vergleichen vorsichtig sein. Wladimir Putin hat in den letzten Tagen zusehends haarsträubende herangezogen. Dieser wahrhaft begnadete Lügner, dessen Machthunger indes keinen Unterschied zwischen dem Zarenreich und dem sowjetischen Imperium erkennt, verfälscht die Historie mit jedem Wort. Mehr noch, er missachtet beharrlich alle drei Wirklichkeiten, von denen sein Landsmann Maxim Gorki einst sprach: die gegenwärtige, die vergangene und die zukünftige.

So bezeichnete er den Westen der Ukraine als ein Geschenk, das Stalin der ehemalige Sowjetrepublik gemacht habe. Selbstredend verschwieg er den Holodomor, die Tötung durch Hunger, der auf Stalins Geheiß zwischen vier und sieben Millionen Ukrainer zum Opfer fielen. (Ist es nicht entsetzlich, wie ungenau Berechnungen in diesen Dimensionen sind?) In diesem Moment war ich plötzlich unendlich froh, dass »Mr. Jones« von Agniezka Holland existiert. Als ich ihn vor drei Jahren im Wettbewerb der Berlinale sah, hatte ich zwar etliche ästhetisch-dramaturgische Einwände gegen den Film, war aber dankbar für die historische Aufklärungsarbeit, um die er sich wacker bemüht.

Das sowjetische Kino wiederum hat für mich inzwischen ganz andere Konturen gewonnen. Zuvor erschien es mir wie ein Monolith, aber in den Jahrzehnten seit dem Zerfall der Sowjetunion ist mir seine regionale Prägung deutlicher geworden. Der Ukrainer Alexander (nein, Oleksander, um die heimische Schreibweise seines Vornamens zu respektieren) Dowschenko etwa scheint mir für eine andere Ästhetik zu stehen als seine Kollegen Eisenstein, Pudowkin oder Wertow. Nehmen wir nur einmal Pudowkins »Mutter«, der von einem vorrevolutionären Aufstand erzählt; durchaus in verblüffender Nähe zum Hollywoodkino. Er bedient sich virtuos der Spannungsdramaturgie des Genrefilms: Die laszive Beiläufigkeit, mit der Streikende und Streikbrecher gegeneinander antreten, erinnert an Western-Duelle.

Aber während die in Hollywood gebräuchliche Konvention des Schuss-Gegenschuss auf der Idee des Gegenüber basiert, betont die Montage im sowjetischen Kino das Ungleichgewicht der Machtverhältnisse, die Diskrepanz zwischen Ausbeutern und Geknechteten. Dies Prinzip mag heute als eine grobschlächtige Argumentation erscheinen: Der Kontrast zwischen dem ausschweifenden Leben der Reichen und der Mühsal der Arbeiterklasse besitzt eine schale Beweiskraft - zumal, wenn er den Gesetzen der Typage unterworfen ist, dem Gegensatz zwischen hässlichen Fratzen und Gesichtern, auf denen sich Reinheit und Ergriffenheit spiegeln. Das hat gleichwohl eine ungeheure plastische Kraft. Die sowjetischen Kameraleute fanden ungekannte Perspektiven, wagten eine extreme Nähe zu den Gesichtern und Objekten. Sie entfesselten den Apparat, er gab sich in den Taumel der Menschenmassen.

Auch Dowschenko war als Regisseur, um Lenins Formel zu benutzen, ein "Ingenieur der Seele". Auch seine Montage unterschied mitunter eindeutig zwischen den Guten und den Bösen, namentlich in seinen zwei Dokumentarfilmen über die deutsche Invasion der Ukraine. Aber ich glaube, sein Gestus erschöpfte sich nicht in der Konfrontation. Er war ja auch zeitweilig als Diplomat tätig. Im Eintrag "Montage der Attraktionen" habe ich am 20. 11. 2017 zu zeigen versucht, wie sich sein "Arsenal" der ideologischen Vereinnahmung entzieht. Nicht von ungefähr nennt man diesen Filmemacher gern den "ukrainischen Poeten". Sein Meisterwerk »Erde« von 1930 belegt diese Zuschreibung und ich denke, er beherzigt zumindest zwei der Wirklichkeiten, die Gorki aufrief. Über die zukünftige lässt sich streiten, denn die ehrgeizigen Fünfjahrespläne waren in der Regel ja ziemlich schnell Makulatur. In »Erde« vollzieht er den Aufbruch in die neue Zeit mit bodenständiger Poesie. Sie ist unwägbar; wie bei all seinen Filmen geriet er in Konflikt mit der sowjetischen Zensur. »Erde« ist zugleich eine Hymne an die Natur und die Tatkraft dörflicher Gemeinschaften, in der Dowschenko den Umbruch als neu entstehenden Einklang feiert. Für ihn existiert kein Widerspruch zwischen dem Privaten und dem Kollektiv; den Übergang von archaischem Ackerbau zu maschineller Produktion mag er nicht als Bruch empfinden. Seine Montage weiß diese Elemente sämtlich in den Zyklus des Lebens eingebunden. Die zwischen Schwermut und Heiterkeit schillernde Eröffnungssequenz gibt einen Tonfall bukolischer Gelassenheit vor: Ein alter Bauer stirbt voller Seligkeit, nachdem er einen letzten, reifen Apfel gekostet hat. Nach dessen Tod schneidet Dowschenko auf die stumme Zeugenschaft der Natur - und dann erst auf die trauernden Hinterbliebenen. Der dramatische Höhepunkt des pastoralen Konflikts zwischen Kulaken, die an ihrer Scholle festhalten wollen, und Bauern, die sich in einer Kolchose organisieren, ist die Ankunft des neuen Traktors: ein zehnminütiges Kabinettstück des ideologischen, aber eben auch lyrischen Suspense. Dowschenko liebte das Land. Diese Liebe kennt Putin nicht. Er will es nur erobern.

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