Lieber schiffbrüchig
»Für Lucio« lässt 1000 Wünsche offen, aber er enttäuscht keinen Augenblick. Pietro Marcellos Dokumentarfilm, der im letzten Jahr als als Berlinale Special lief und seit einigen Tagen auf mubi zu sehen ist, spart Vieles aus, das unverzichtbar wäre. Anders gesagt: Er lässt alles Uninteressante weg.
Die Chance, eine handelsübliche Biographie von Lucio Dalla zu werden, hatte der Film bei diesem Regisseur nie. Stattdessen ist er, unter anderem, ein Porträt seiner Geburtsstadt Bologna, die sich zu Lebzeiten des Sängers radikal veränderte, aber nie so sehr, dass er seine Wurzeln dort kappen wollte. Schon Marcellos frühere Filme nahmen sich das Recht heraus, von mehr als nur ihrem Gegenstand zu handeln. Sie sind außerstande, etwas dingfest zu machen. Aber nie zuvor ist der italienische Filmemacher so entschieden das Risiko eingegangen, dass ihm etwas abhanden kommt.
Nun gibt der Titel »Per Lucio« auch nicht das Versprechen umfassender Erkenntnis aus, sondern ist eine Widmung. Vielleicht auch eine persönliche Anrede, ein Angebot, zuzuhören. Dalla jedenfalls zeigt sich in zahlreichen Interviews als ein gewiefter Selbstdarsteller: im Modus der unaufhörlichen Suche. Er ist beileibe kein Schweiger wie Artavazd Pelechian, gibt aber ebenso viele Rätsel auf. Wiederum faszinieren Marcello die Widersprüche, in die sich ein Künstler verstrickt. Verstricken muss? Als unverzichtbares Schmiermittel der Kreativität erscheinen sie nicht, eher als wesenhafte Gunst. Sie zerreißen ihn nicht. Dalla hält Ambivalenzen aus. Er begeistert sich glühend für das legendäre Autorennen "Mille miglia" (und der Film kann sich an ihm nicht satt sehen), aber mit Fiat-Chef Agnelli geht er hart ins Gericht. So und so findet dieser Liedermacher sich in den Zeitläuften wieder.
Dalla will all die bürgerlichen Sicherheiten, die beruflicher Erfolg mit sich bringt, und er will sie nicht. Er ist ein Außenseiter, der ins Zentrum drängt. Als er anfing, war die Zeit noch nicht ganz vorbei, in der Schlagersänger gut aussehen mussten (allerdings erfüllte sein Förderer Gino Paoli dies Kriterium auch nicht), er tat also gut daran, sein Metier mit robuster Skepsis zu betrachten, um es sodann zu revolutionieren. "Ich bleibe lieber schiffbrüchig", vertraut er einem Interviewer an, und wohlfeil klingt das nicht. Das Scheitern ist kein Garant der Integrität, aber ein exzellenter Lehrmeister.
Die Chance, etwas anderes als ein Marcello-Film zu werden, hatte »Per Lucio« letztlich auch nie. Inzwischen wird nicht mehr nur ein Stil des Regisseurs kenntlich, sondern ein Erzählsystem. Er assoziiert viel Archivmaterial. Manchmal tauchen bereits gesehene Bilder wieder auf, wie Markenzeichen, an denen man die Runden bei einem Autorennen erkennt. Einmal, auch das hat System, zitiert er aus einem eigenen Film, »La bocca del Lupo« (Das Maul des Wolfs), wo Patrick Holzapfel im "Filmdienst" gar nicht gefiel und wofür er die schöne Formel "etwas selbstwichtig" fand.
Es hilft beim Sehen, über Vorwissen zu verfügen. Aber Filme, die Lust aufs Nachwissen machen, sind nicht zu verachten. Ich bin nicht einmal sicher, ob »Per Lucio« sich an Eingeweihte richten, geschweige denn seine Zuschauerinnen und Zuschauer in solche verwandeln will. Er ist die allerdings strenge Improvisation über ein Thema, setzt sich auch über die eigenen Prinzipien hinweg. Indem Marcello die Zeit-, Kultur- und Alltagsgeschichte des Nachkriegsitalien evoziert, nimmt er stilistische Verschiebungen vor: Es ist auf Anhieb nicht immer leicht zu sagen, in welchem Jahrzehnt man sich befindet, da der Sepiaton, in dem die Passagen meist gehalten sind, auch ursprünglich farbige Wochenschaubilder historisch entrückt. Wie in „Martin Eden“ entsteht eine eigene Zeitrechnung. Die bleiernen Jahre knüpfen mitunter direkt an die Erfahrung von Armut und Entwurzelung der frühen Nachkriegszeit an. Die Arbeitskämpfe, die Dalla mit seinen Liedern begleitet, sind davon ausgenommen: Die Sozialgeschichte Italiens ist kein ruhiger Fluss. Der Zeitgenosse Dalla war eben auch ein Herold des Bruches, des kontinuierlichen gar. Seine Musik ging mit den Moden, es ist ein Schock, als Erstes ein Disco-Stück von ihm zu hören (und dann für eine ganze Weile kaum mehr Musik). Kommerziell wirklich erfolgreich wurde er erst in den 1980ern (nein, sein Millionenseller „Caruso“ erklingt nicht). Gewissermaßen ist er sich und seinem Publikum als ein Chamäleon treu geblieben. Seine raue, heisere Stimme bleibt natürlich unverkennbar. Sie bürgt dafür, dass es nie zu gefällig wird.
Marcello schöpft aus einem Überfluss an Material, gewährt nebenbei amüsante Einblicke in vergangene Fernsehkonventionen (eine Show, in der sich seine Mutter über seinen Vollbart beklagt; eine bunt besetzte Talkrunde, in der über die politische Lage debattiert wird). Erweckt jedoch den Eindruck eine ertragreichen Beschränkung, ja Kargheit. Warum beispielsweise ruft er nicht mehr Wegbegleiter als talking heads auf? Die Frage stellt sich nicht mehr, je länger man seinem Manager Tobia zuhört, der ihn 46 Jahre kannte. Zu ihm gesellt sich später Dallas Jugendfreund, der Philosoph Stefano Bonaga. Bei Pasta und Rotwein entspinnt sich zwischen ihnen ein forschender Dialog, der gleichwohl im Brustton der Überzeugung und Kennerschaft geführt wird. Er steckt voller poetischer Mutmaßungen ("Er ließ sich vom Leben durchfluten."), altgedienter Faszination ("wie ein sanfter Raubvogel","„ein immerwährendes Feuerwerk") und liebevoller Schmähungen ("Er war ein hübsches Kind, danach wurde er kontinuierlich hässlicher."). Die Gesprächspartner lassen es bald nicht mehr mit Zeugnissen der Intimität bewenden, sie interessiert auch die Vertraulichkeit, die Dalla zu Publikum und Öffentlichkeit herstellte. Tobia und Stefano stellen sich nicht nur in den Dienst des Films, dieser behandelt sie als Charaktere aus eigenem Recht. Der Rhythmus des Films ändert sich um ihretwillen: Die Montage weicht immer seltener von ihrer Seite, denn irgendwann wird ihre Zwiesprache so weltbewegend wie »Mein Essen mit André«. Man spürt, was es bedeutet, mit einem besonders talentierten Menschen befreundet zu sein. Insgeheim erzählt Marcello nicht von einem Leben, sondern von dreien.
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