Buch-Tipp: Stefan Jung, Marcus Stiglegger – Berlin Visionen
Während sich Städte wie Los Angeles oder San Francisco, Paris oder London mit ihren berühmten Panoramen und Wahrzeichen im Kino meist monumental manifestieren, ist Berlin die wendige, flirrende, labyrinthische Metropole, mit der sich ganz unterschiedliche Geschichten vernetzen, in der sich die verschiedensten Seelenzustände spiegeln. Berlin ist zugleich wiedererkennbar und ständig in Veränderung begriffen. In dem Band »Berlin Visionen« setzen die Filmpublizisten Stefan Jung und Marcus Stiglegger als Herausgeber und Autoren das filmische Bild der Stadt aus vielen Text-Puzzlesteinchen zusammen. Ganz bewusst haben sie sich dabei auf die letzten 40 Jahre beschränkt, in denen die Stadt einen besonders starken Wandel von der geteilten Grenz- und Mauerstadt mit der blühenden Westberliner Subkultur über die Wende- und Nachwende-Stadt zur Neuordnung als Spekulations-Eldorado des neuen Jahrtausends durchgemacht hat. Ein Prozess, in dessen Verlauf sie zum Schauplatz des organisierten Verbrechens und internationaler Agentenverwicklungen wurde (Kapitel IV widmet sich diesem Thema unter dem Titel »Unknown Identity«).
Nach einer ausführlichen Einleitung mit Absichtserklärung, in der die Herausgeber auch die Definition des filmischen Raums anreißen, wird Berlin als Schauplatz in fünf Kapiteln und 21 Essays vermessen und eingekreist. Auffällig ist, dass die Geschichte der Stadt im Kino ebenso wie die Filmgeschichte Berlins auch im Jahr 2021 noch immer fast ausschließlich von Männern geschrieben wird. Die beiden Mauerumrundungsfilme von Cynthia Beatt und »Nie wieder schlafen« von Pia Frankenberg sind eher kuriose Randerscheinungen unter den durchwegs männlichen Regiearbeiten, und 17 Autoren des Bandes stehen nur drei Autorinnen gegenüber.
»Berlin Visionen« ist ein Lesebuch, das schon durch das kompakt handliche Format den Charakter eines Reiseführers hat, in dem die Stadtgeschichte mit der Filmgeschichte vernetzt wird und die Herausarbeitung urbaner Identität mit ihrer filmischen Gestaltung. Man kann sich punktuell einzelne Kapitel erschmökern, aber auch an den roten Faden der zeitlichen Chronologie halten, in der das Hauptaugenmerk weniger auf berühmten Klassikern wie »Der Himmel über Berlin« liegt, sondern eher den schillernden Perlen der Nacht gilt, Filmen wie Possession von Andrzej Zulawski, »Alpha City« von Eckhart Schmidt oder dem »Suspiria«-Remake von Luca Guadagnino. Schmerzlich zu vermissen sind wichtige neuere Werke wie »Oh Boy« und »Lara« von Jan-Ole Gerster oder »Der Nachtmahr« von AKIZ, die scheinbar keine Paten gefunden haben.
Aber Vollständigkeit sollte man von so einem ambitionierten und durchaus vielstimmigen Reiseführer ohnehin nicht erwarten, immerhin werden auch Serien wie »Im Angesicht des Verbrechens«, »Babylon Berlin« und »4 Blocks« einbezogen, deren Beschreibung und Analyse sich ein bisschen zu ausführlich auf den Handlungsverlauf konzentriert. Dafür gibt es interessante Motivkomplexe wie eine umfassende Passage durch das Europa Center als Kinoschauplatz, wo Stadt-, Architektur- und Filmgeschichte vernetzt werden, und einen Schlenker zur »Seltsamen Abwesenheit Berlins in den Filmen von Til Schweiger«, der sich für diesen Schauplatz, an dem sich so viele Geschichten entzünden, der so viele Regisseure inspiriert, ausdrücklich nicht interessiert.
Es macht Spaß, den ausgelegten Fährten zu folgen, Haupt- und Nebenwege zu entdecken, in denen manche Filme immer wieder auftauchen und sich alle Essays zum lebendigen Organismus verbinden. Der Staffelstab wird von Autor zu Autor weitergegeben, viele verschiedene Facetten fügen sich zum flirrenden Gesamtbild, das gar nicht den Versuch unternimmt, diese Stadt festzuschreiben. Kleines Manko sind die miniformatig in ärmlicher Qualität gedruckten Fotos, die sinnliche Pflege der Filmkultur überlässt die deutschsprachige Filmliteratur aus Kostengründen viel zu häufig den cinephileren Franzosen und Amerikanern. Im Herzen des Buchs beantworten neun Berlin-affine Regisseure wie Rudolf Thome oder Heiner Mühlenbrock drei Fragen zur Darstellung der Stadt im Kino. Eckhart Schmidt bekundet, wie er sich, an Melville orientiert, aus den Elementen der Wirklichkeit seine eigene Berliner Realität erschaffen hat. Die Liste der verwendeten Literatur lädt zum Weiterlesen, die mit den markierten Schauplätzen zu filmischen Stadterkundungen ein. Und aufs Filmesehen macht das Buch ohnehin Lust.
Stefan Jung, Marcus Stiglegger (Hg.): Berlin Visionen. Filmische Stadtbilder seit 1980. Martin-Schmitz-Verlag, Berlin 2021. 372 S., 24 €.
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