Schneller als der eigene Schatten
Die Pandemie hat einige Longseller hervorgebracht. Das ist vielleicht mehr als eine subjektive Wahrnehmung. „Parasite“,„Nomadland“ und „Ich bin dein Mensch“ jedenfalls brauchten lange, um von den Spielplänen zu verschwinden; „Dune“ behauptet sich dort nach wie vor stolz. Auch die Flamme von „The French Dispatch“ ist, zumindest in Berlin und Hamburg, noch nicht ganz erloschen.
Wes Anderson nimmt unterdessen bereits seinen übernächsten Film in Angriff, „The Wonderful Story of Henry Sugar“, eine weitere Roald Dahl-Verfilmung. In der Zwischenzeit hat er „Asteroid City“ mit Tom Hanks, Margot Robbie, Scarlett Johansson und einigen Mitgliedern seiner Stock company abgedreht. Er legt mithin ein Tempo vor, das man von ihm nicht gewohnt ist. Gewiss, dieser Eindruck ist auch der Pandemie geschuldet – nicht zuletzt aus Treue zu Cannes lag „The French Dispatch“ ein Jahr auf Eis. Er ist bei weitem nicht der einzige Filmemacher, der eine rasante Aufholjagd gegen Corona unternimmt.
Es ist nicht nur gut möglich, sondern sehr wahrscheinlich, dass Caire Denis in diesem Jahr zwei Filme herausbringt. Ihr Wettbewerbsbeitrag „Avec amour et acharnement“ könnte ein echter Coup für die Berlinale sein, den hatten Branchenkenner eher für Cannes im Visier. Denis' zweiter englischsprachiger Film „The Stars at Noon“ befindet sich derzeit in der Nachproduktion, für Cannes ist er wahrscheinlich nicht fertig, aber Venedig und Toronto werden sich bestimmt um ihn bemühen. Der Koreaner Hong Sangsoo scheint derweil für jedes A-Festival (oder wenigstens jedes zweite) einen neuen Film parat zu haben. Mit dieser Schaffenskraft tritt er die unerwartete Nachfolge von Johnnie To an, der in seinen besten Jahren jeweils in Berlin, Cannes und Venedig präsent war. Auch von Francois Ozon und Stephen Frears erwartet man ja, dass sie schneller als ihr Schatten drehen.
Aber so viel Unermüdlichkeit war nie. Corona ist nicht unbedingt ein Wartetstand, es gibt glückliche Konstellationen. Schon im letzten Jahr konnte man das Phänomen erleben, dass RegisseurInnen in einer Saison gleich zwei, überdies sehr unterschiedliche Filme herausbrachten: Ridley Scott ließ auf „The Last Duel“ flugs „House of Gucci“ folgen und Chloe Zhao überraschte (gelinde gesagt) nach „Nomadland“ mit „Eternals“. Früher hat Steven Spielberg einen solchen Spagat häufiger gewagt, „Schindlers Liste“ und „Jurassic Park“ sowie „Minoroity Report“ und „Catch me if you can“ etwa kamen jeweils kurz hintereinander heraus. Er hat sein Tempo seither etwas gedrosselt.
Aber inzwischen wechseln Filmemacher behände zwischen Spiel-, Dokumentarfilmen und Fernsehproduktionen (etwa Martin Scorsese); andere sind auf allen Kanälen vertreten wie Luca Guadagnino, der nach seinem Porträt von Salvatore Ferragamo und der Serie „We are who we are“ schon wieder irgendein Remake in der Pipeline hat und zwischendurch kurz mal einen halblangen Weihnachtsfilm mit John C. Reilly für das spanische Modehaus Zara gedreht hat. Die Regie ist ein Medium, das ausgeübt werden will: Die Muskeln müssen trainiert werden.
Darin lebt womöglich auch der alte, heimliche Traum vieler Filmemacher auf, wie Studioregisseure zu arbeiten. Im alten Hollywoodsystem drehten, sagen wir mal, Jack Arnold, Lloyd Bacon, Michael Curtiz oder John Ford am Fließband. sein. Lawrence Kasdan gestand mir einmal in einem Interview, welche Entlastung es wäre, so leichtfüßig an die eigene Filmographie herangehen zu können: Nicht jeder Film muss gelingen oder gar ein Meisterwerk sein. Inzwischen hat die radikal veränderte Medienlandschaft längst eine andere Spielart des working director hervorgebracht. Der aktuelle Anstieg der Produktivität ist natürlich den Streamingplattformen geschuldet ( Anderson dreht „The Wonderful Story of Henry Sugar“ für Netflix). Aber auch das klassische Fernsehen tritt hier wieder in Erscheinung als ein attraktiver Player. Steve McQueen hat seine fünfteilige „Small Axe“-Saga für die gute, alte BBC gedreht, allerdings auf eine Weise, die traditionelle Fernsehformate sprengt (z.Teil in CinemaScope und mit einer Laufzeit von zwei Stunden) und seinen Status als auteur bekräftigt (er besteht auf dem Credit „A Steve McQueen film“); flankiert wurde dieses aufwändige Vorhaben zudem von einer Dokumentarfilmreihe. Erst recht bei Drehbuchautoren stellt sich die Frage, woher sie ihre Zeit, Energie und Inspiration nehmen. Taylor Sheridan etwa ist nicht nur Showrunner von „Yellowstone“, er schreibt die meisten Episoden selbst und hat gerade mit „1883“ eine Prequel lanciert. Das Kino scheint er darüber nicht aufzugeben.
Ein Nebeneffekt und zweifellos Nachteil dieses Booms sind die fehlenden Glieder in der Lieferkette. Ein befreundeter Regisseur klagt darüber, wie schwer es ist, momentan nicht nur DarstellerInnen zu finden, die gerade frei sind. Auch weitere zentrale Teammitglieder sind voll beschäftigt. Und die Infrastruktur ist nicht gewappnet, es mangelt an technischer Ausrüstung, Produktionsfahrzeuge und Cateringfirmen sind nicht abkömmlich. Ein neues Wirtschaftswunder.
Ein Vorteil und hoffentlich kein bloßer Nebeneffekt scheint mir die Wertschätzung von Talent zu sein. Claire Denis hat in den ersten dreißig Jahren ihrer Regiekarriere 17 Spiel- und Dokumentarfilme realisiert. Das ist für sich schon eine heroische Bilanz und bekräftigt das hohe Ansehen, das sie international genießt. In Frankreich agiert sie in (und am Rande) einer Industrie, die weniger fragil ist als die anderer Kinematografien. Ich weiß nicht, wie lang die Liste ihrer nicht-realisierten Projekte ist. Vermutlich ist diese gar nicht mal so umfangreich. Sie hatte sicher stets zu kämpfen, es gibt auch mal Pausen von zwei, drei Jahren in ihrer Filmografie. Ob sie schön früher den Wunsch hegte, außerhalb Frankreichs zu drehen? Den Weg zu „High Life“ hat ihr sicher zu einem Gutteil der (mir nach wie vor unerklärliche) Starruhm Robert Pattinsons geebnet. Der stand dann für „The Stars at Noon“ plötzlich nicht mehr zur Verfügung. Manchmal stehen die Sterne günstig.
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