London-Hollywood-Paris-Bielefeld
Aktualität ist ein Begriff, den die französische Filmkritik meist großzügig auslegt. In aller Regel wird zu Gunsten der Filmkünstler entschieden. Was gut ist, hat kein Verfallsdatum. Um die Gültigkeit, die Alfred Hitchcocks Werk für die Gegenwart besitzt, müsste man sich also keine Sorgen machen.
Ständig werden Remakes seiner Klassiker angekündigt. Auf die von Netflix produzierte »Rebecca« soll nun eine Wiederauflage von »Über den Dächern von Nizza« folgen, in der Gal Gadot die Nachfolge von Cary Grant (oder doch Grace Kelly?) antritt. In unseren dritten Programmen laufen seine alten Filme, wenn auch spät, rauf und runter. Heute Abend zeigt arte »Vertigo« zur besten Sendezeit, gefolgt von der pfiffigen Dokumentation »Mr.und Mrs. Hitchcock«, die zwar gerade erst vor einem Monat auf dem Sender zu sehen war, ich glaube nach »Verdacht«, aber der »Winter of Mysteries« macht's möglich. Ein Mysterium bleibt der Regisseur ja ohnehin. Und es ist allemal der Frage würdig, ob er uns heute noch etwas zu sagen hat.
Die Antwort, die das Buch „Hitchcock - Alle Filme" gibt, ist eindeutig: Seine Autoren rufen ihn als einen unbeirrten, wachen Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts auf. Sie argumentieren umfangreich und umfassend. Auf 648 Seiten bringt es der überschwänglich illustrierte Band. Der Bielefelder Verlag Delius Klasing wagt sich damit auf ungewohntes Terrain. Das passt zu einem Buch, das vom fortwährenden Experiment handelt. Eigentlich werden dort Sachbücher und Zeitschriften verlegt, die sich mit jeder Art von Mobilität (zu Wasser, zu Land und in der Luft) beschäftigen. Hitchcock setzt der luxuriösen "Edition Delius" ein Glanzlicht auf. Darin sind bisher Bände zu so hochkarätigen Themen wie Zigarren, Wein und Rockbands erschienen; zu imposanten Preisen.
Die französische Originalausgabe "Hitchcock – La Totale" überzeugte gar Michel Ciment, der als graue Eminenz der Zeitschrift "Positif" einem ganz anderen publizistischen Lager als die Verfasser angehört, vollends: Er feierte sie als die definitive Studie über den Regisseur. Als Rudolf Worschech den Band im vergangenen Frühjahr für "epd Film" rezensierte, war er zurückhaltender in seinem Urteil: Er fand, man erfahre nicht allzu viel Neues. Dem muss ich entschieden widersprechen. Das Buch ist leidenschaftlich informativ. Gewiss, vieles konnte man eventuell schon aus früheren Publikationen über den Regisseur erfahren. Und ich selbst war überzeugt, das Wichtigste über ihn zu wissen. Aber, wie ich im vorherigen Eintrag schrieb, ist das Ausmaß der eigenen Lücken ein Mysterium für sich; ein klägliches überdies. Neu war für mich beispielsweise, dass es der Kameramann Jack Cardiff war, der Hitch empfahl, das Bühnenstück »Bei Anruf Mord« zu verfilmen. Und schau an, die Lackierei von Paramount doubelt in »Vertigo« die Werft von Gavin Elster. Gut, das gehört vielleicht in die Sparte "Trivia". Aber welche Trouvaille ist Hitchcocks Unterscheidung zwischen Suspense und Terror! Das eine vergleicht er mit dem Herannahen einer V1-Rakete während des Blitzkriegs, das andere mit dem Anflug einer V2. Ob Rudolf mit dem Zitat wirklich vertraut war?
Zwei der Autoren des Buchs kenne ich persönlich. Mit Bernard Benoliel und Jean-Francois Rauger hatte ich gelegentlich an der Cinématheque francaise zu tun. Benoliel besitzt ein besonderes Talent, in verblüffenden Kontexten zu denken; Rauger ist ein flamboyanter, unorthodoxer Kopf, was sich ebenso in den Programmen zeigt, die er für die CF gestaltet, wie in seinen Artikeln für die "Cahiers du cinéma" und "Le Monde". Aus dieser Tageszeitung ist mir auch der Name von Murielle Joudet vertraut, deren Kritiken ich sehr schätze. Zusammen mit Gilles Esposito zeichnen sie gemeinsam für das gesamte Buch, da ist man natürlich versucht, die jeweilige Handschrift aufzuspüren, was aber selten gelingt. In der Tat ist die Bereitschaft der Autoren, sich für diese Aufgabe zurückzunehmen, bewundernswert. Rauger, der zu Nonchalance neigt, dürfte das besonders schwer gefallen sein.
Der Aufbau des Buches ist von auf aufgelockerter Strenge. Es folgt der Chronologie von Hitchcocks Werk, fängt an mit einem Kapitel "Hitchcock vor Hitchcock" und endet mit einem Epilog über seine Nachahmer. Jedem von Hitch inszenierten Kino- und Fernsehfilm sind mehrere Seiten gewidmet - wenn es nur zwei sind (wie im Fall von „Waltzes in Vienna“ und erstaunlicherweise auch »Die rote Lola«, »Immer Ärger mit Harry« sowie »Topas«), ist das kein gutes Zeichen. In der Regel erzählen sie ausführlich die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte nach, wobei die Entwicklung der Drehbücher besonderes Gewicht erhält, liefern thematische und stilistische Analysen. In den Filmkapiteln kehren feste Rubriken wieder ("Wo ist Hitchcock", "Für absolute Hitchcock-Fans", am liebsten mag ich "Genau hingeschaut", wo der Fokus auf ein besonderes Stilelement gelegt wird – zu "Easy Virtue" gibt’s gleich zwei dieser Nahaufnahmen). Pointiert sind dazwischen Porträts von seinen wichtigsten Mitarbeitern eingestreut (natürlich Alma Reville, dazu Schauspieler, Produzenten, der Komponist Bernard Herrmann , Kameramann Robert Burks, Vorspanngestalter Saul Bass etc.) sowie Darstellungen zentraler Erzähltechniken (MacGuffin, Storyboards) und Motive (Psychoanalyse, Mütter, Monumente). Das Kapitel über nicht realisierte Projekte ist knapp, das Glossar hilfreich.
Die Übersetzung ist zuweilen ein Ärgernis. Manchmal klebt sie allzu treuherzig am französischen Original (es schmerzt zu lesen, dass der Szenenbildner Henry Bumstead als "Chefdekorateur" tituliert wird), ist ungelenk (»Topas« soll die "Verfilmung eines Bestseller-Spionagefilms" sein?) oder schlicht ein Missverständnis (»The Jazz Singer« markiert den Durchbruch des Tonfilms, ist aber mitnichten der "erste Film über Filmgeschichte"). Da hätte ich mir ein wachsameres und vor allem sachkundiges Lektorat gewünscht.
Die erstaunlichsten neuen Erkenntnisse gewann ich in den Kapiteln, die sich mit Hitchcocks Beitrag zum War effort beschäftigen. Üblicherweise werden hier nur seine Kurzfilme »Bon voyage« und »Aventure Malgache« genannt und seit einigen Jahren auch der zunächst verdrängte, dann mehrfach bearbeitete Dokumentarfilm »Memory of the Camps«. Hitchcocks Einfall, Landkarten hineinzumontieren,um zu zeigen, wie gering die Entfernung der Konzentrationslager zu deutschen Städten war, deren Bewohner angeblich von nichts wussten, ist so einfach wie schlagend. (Die restaurierte Fassung läuft unter dem Titel "Night will fall" am 23. Januar im MDR.)Das Engagement des Regisseurs ging jedoch weit über diese Beispiele hinaus. Er wirkte ungenannt an Filmen wie »Forever and a Day« und »Target for Tonight« mit. Sechs Seiten lang wird der Fotoroman "Have you heard?" aufgeblättert, den Hitchcock für die Zeitschrift "Life" nach Motiven des berühmten Eliot Elisofon "inszenierte". Die Spuren, die der Zweite Weltkrieg und der Holocaust in seinen Filmen hinterließ, verhandeln die Autoren sehr detailliert.
Ohnehin liegt eine Stärke des Buchs in der thematischen und ästhetischen Vernetzung der Filme. Sie antworten aufeinander; Hitchcock entwickelt Ideen weiter, was ihm in einem missglückte, soll im nächsten gelingen. Mit jedem Film eröffnet sich für ihn ein neues Versuchsfeld, wobei insbesondere seine Fernseharbeiten als Labor für im Anschluss entstehende Kinofilme fungieren (klug sind im Gegenzug die Unterscheidungen, die das Buch zwischen den Stars der Filme und den "alltäglichen" TV-Darstellern trifft). Die Querverbindungen, denen das Buch nachspürt, sind faszinierend. Nur ein Beispiel: Das Stück »Mary Rose«, welches Hitch 1920 im Londoner Haymarket Theatre sah (daraus hat der Verlag ein Szenenfoto ausgegraben, das die Bühnendarstellerin in einer Doppelbelichtung, gleichsam als Geisterbild zeigt), sucht ihn fortan heim, es gehört nicht nur zu den nicht realisierten Projekten, sondern hat enormen Einfluss auf »Vertigo«. Herrmanns Partitur, behaupten die Autoren, wurde nicht allein vom Liebestod-Thema aus "Tristan und Isolde" inspiriert, sondern auch der damaligen Bühnenmusik.
Sie sind wahre Trüffelschweine. Die sprichwörtliche französische Entdeckerfreude in Sachen Hitchcock lässt ihr Buch dann auch zu einer recht patriotischen Angelegenheit werden. Das gilt für die philosophische Verve der Analysen ebenso wie für die Aufarbeitung der Debatten, die seit den 1950er Jahren in Paris erbittert geführt wurden. Das Fragezeichen in der Überschrift "Alfred Hitchcock – eine französische Erfindung?" ist selbstredend nicht überflüssig, So wenig Eitelkeit muss sein. Aufschlussreich ist in diesem Fokus vor allem der ideologische Furor, mit dem über Hitch gestritten wurde. Vor dem Hintergrund des Korea-Krieges (und des Kalten überhaupt) gerät er zum Zankapfel einer Schlacht, in der anti-amerikanische Ressentiment und eine glühende, phantasievolle Verehrung für den längst nicht anerkannten Meister einander gegenüber stehen. Diese politischen Nuancen werden heute in der Regel ausgeblendet. Noch eine Erkenntnis, die ich diesem gewichtigen Buch verdanke.
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