Kritik zu First Cow

© MUBI

2019
Original-Titel: 
First Cow
Filmstart in Deutschland: 
18.11.2021
Heimkinostart: 
09.07.2021
V: 
L: 
122 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Der beste Kuchen des Wilden Westens

Bewertung: 4
Leserbewertung
5
5 (Stimmen: 1)

»The bird a nest, the spider a web, man friendship.« Dieses schöne Zitat von William Blake hat Kelly Reichardt ihrem neuen Film vorangestellt. Die Freundschaft, von der sie dann mit ihrer typischen Bedächtigkeit erzählt, mit feinem Humor, doch unabwendbarer Tragik, entwickelt sich irgendwann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Oregon: Ein junger, sehr sanftmütiger und im Wilden Westen damit reichlich fehl am Platz wirkender Koch, genannt Cookie (John Magaro), begleitet eine Gruppe raubeiniger Trapper und soll ihren Speiseplan sicherstellen. In dem Urwald, durch den sie ziehen, ist allerdings außer ein paar Pilzen und Kräutern selten etwas zu holen. Was Cookie aber findet, in einem Moment von schräger Komik, ist ein nackter Chinese (Orion Lee), der sich im Buschwerk versteckt hat. Lange Pause, dann ein leises »Hello«. Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen dem sanften, melancholischen Cookie und dem eloquenten und nie um eine Idee verlegenen King-Lu – für einen Western so ungewöhnlich wie so vieles andere in diesem Film.

Schon mit »Meek's Cutoff« hatte Reichardt die Mythen des Wilden Westens konterkariert und das sehr authentisch wirkende Bild eines Trecks von Siedlern in den unendlichen Prärien gezeichnet. Die ganz andere Welt von »First Cow« ist nicht minder überzeugend gestaltet. Mit großartigem Kostüm- und Szenenbild ersteht hier ein früher Westen, wie wir ihn bislang kaum kannten, in Wald- und Flusslandschaften , die noch urzeitlichen Charakter haben, mit armseligen Gestalten – abgesehen von den Indianern sind es fast ausschließlich Männer – in Ansiedlungen aus primitiven Holzverschlägen. Braun-, Grün- und Grautöne beherrschen die satten Bilder. »Die Geschichte ist hier noch nicht angekommen«, bemerkt King-Lu einmal.

Gerade weil die Lebensumstände so rau und primitiv sind, ist die Geschäftsidee, die King-Lu eines Tages hat, so genial: Warum nicht Cookies in Öl ausgebackene, feine Küchlein auf dem kleinen Markt anbieten? Und in der Tat trifft das ungleiche Paar mit seiner Ware einen Nerv, denn das feine Gebäck ruft Erinnerungen an Kindheit und Heimat wach. Eine unverzichtbare Zutat ist allerdings die Milch – und die stehlen Cookie und King-Lu nächtens bei der ersten und einzigen Kuh weit und breit, die dem Grundbesitzer Chief Factor gehört.

In vielfacher Hinsicht ist Factor, verkörpert von Toby Jones, mit seiner Kuh und seiner Villa im Nirgendwo, mit Angestelltem in feinem Zwirn und weltläufigen Manieren als hartem Kontrast zu allem anderen in dieser Welt, der Dreh- und Angelpunkt von Reichardts Plot. Neben der berührenden Freundschaftsgeschichte erzählt sie nämlich auch so unaufdringlich wie genau vom Wesen der Marktwirtschaft und vom Kapitalismus, wie sie sich hier in früher Übersichtlichkeit darstellen, von Angebot und Nachfrage, von Produktionsmitteln und dem Erwirtschaften eines Mehrwerts, von der Anhäufung von Kapital, von Einsatz, Gewinn und Verlust. Und zwangsläufig erzählt sie dabei von Machtverhältnissen.

So ruhig sich die Handlung entwickelt, so stetig steigert das heimliche Treiben von Cookie und King-Lu die Spannung. Denn je erfolgreicher die beiden Jungunternehmer mit ihren Küchlein sind, desto gefährlicher werden ihre nächtlichen Ausflüge auf das fremde Grundstück. Als Chief Factor persönlich Geschmack an ihrem Trendprodukt findet, kommt eine Dynamik in Gang, deren tragischer Ausgang dem Betrachter allerdings schon seit dem Prolog des Films vor Augen steht, einer kurzen Szene im Heute, die am Ufer desselben Flusses spielt, der die Lebensader der vergangenen Welt wie auch des Films ist.

Bei aller Tragik und einem gewissen Fatalismus, der »First Cow« grundiert, ist er zwar keine Hymne – denn dem Film fehlt alles Triumphale –, jedoch ein wundervoller Lobgesang auf die Freundschaft und die Sanftmut, von bezwingender Einfachheit, Schönheit und Poesie und voll berührender Momente wie jenen Nachtszenen mit Kuh und Cookie, der beim Melken in liebevollen Worten mit dem Tier spricht.

In ihren langen, kargen Einstellungen, immer wieder von Naturbetrachtungen durchsetzt und fast träumerischen Saitenklängen begleitet, hat Reichardt eine Welt erschaffen, die nichts beschönigt oder verklärt – und die man dennoch nur ungern wieder verlässt.

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