Die Gabe des Sehens
Niemand filmt Uhren so wie er. Das Gleiche gilt für Insekten. Fangen wir mit Letzteren an, denn Jan Troell macht sich von ihnen ein eigenes Bild. Es ist aus dem Leben gegriffen.
Auch in seinen Filmen drängt es die Fliegen zur Sonne. Jedoch stellen sich ihnen Fenster als ein Hindernis in den Weg, das sie nicht begreifen. Aber aufgeben gilt nicht, unermüdlich fliegen sie gegen die unsichtbare Barrieren an. Manchmal ist ihr Bewegungsraum zusätzlich eingeschränkt, dann sischwirren sie zwischen dem Fensterglas und einer Gardine. Das ist kein unentrinnbares Gefängnis, sie könnten jederzeit wieder zurück ins Innere. Aber sie gehorchen dem Drängen nach Licht und Wärme. Dem schwedischen Regisseur ist das nicht nur kurze Zwischenschnitte wert, er verweilt gern ein paar Sekunden länger darauf. Das ist erst einmal ein atmosphärisches Element, es etabliert Ort, Tages- oder Jahreszeit, lädt aber auch zur Reflexion über das Sekbstverständliche ein.
In seinem Debütfilm „Hier ist dein Leben“ wird das Techtelmechtel des Protagonisten mit seinem Mädchen von Ameisen gestört, die im Gras herumkrabbeln. Es ist ihr erstes Mal, das Drängen zu stark, als dass es sie nachhaltig aufhielte. Mein Lieblingsinsekt ist die Motte in „ Die ewigen Momente der Maria Larsson“, die sich im Atelier des Fotografen in der Linse der Kamera spiegelt und Schatten wirft. Ein herausgehobener Moment, selbstredend eine Metapher auch für das eigene Medium, wenn man daran denkt, dass man die ersten bewegten Bilder zuweilen „elektrische Schatten“ nannte.
Das Österreichische Filmmuseum widmet Troell und seinem Weggefährten Bo Widerberg gerade eine Doppelretrospektive, die noch bis zum 20. Oktober läuft. Diese Zusammenschau ist eine triftige Idee - einmal, weil sie in den 1960er Jahren gleichermaßen federführend einen neuen Aufbruch im schwedischen Kino, einen Generationenwechsel vollzogen; zum anderen, weil sie Freunde waren und eng zusammen wirkten (Troell hat einige der frühen Filme Widerbergs fotografiert): keine Zwillinge, aber doch Brüder. Im Katalog des Centre Pompidou zu einer Retrospektive des skandinavischen Kinos fand ich nebeneinander zwei Porträtfotos von ihnen. Widerberg (über den ich im Eintrag „Harmonie der Widersprüche“ vom 23. 4. 2019 schrieb) wirkt wie ein hagerer, sorgenvoller Intellektueller. Troell hingegen mutet, mit Vollbart und Wollmütze, kernig an: wie ein erfahrener, windgegerbter Seemann. Ein Zweifler muss er gleichwohl sein, das ist zumindest aus einer Dokumentation über ihn zu erfahren. Gleichwohl hat er eine ganze Reihe von Abenteuerfilmen gedreht, deren Helden Piloten, Ballonfahrer, Forscher, Schriftsteller, Lehrer oder eben eine junge Pionierin der Fotografie sind.
Seine Charaktere müssen sich zunächst mit dem Leben messen, erst in zweiter Linie mit der Gesellschaft. Er erforscht sie, in dem er sie der Natur und den Elementen aussetzt. Flora, Fauna und Witterung spielen deshalb eine zentrale und vielgestaltige Rolle, Hunde sind beinahe ebenso interessant wie Insekten in diesen bewegten Stillleben (etwa, wie sie aufmerksam einer Stummfilmvorführung folgen). Troell ist ein total filmmaker, der auch für Drehbuch, Kamera und Schnitt verantwortlich ist. Er kam als Autodidakt zum Kino. Bestimmt wagte er deshalb so viel in seinem Debüt „Hier hast du dein Leben“, setzte ganz eklektizistisch Stilmittel ein (Freeze frame, unterschiedliches Filmmaterial, eingangs wirkt der Schwarzweißfilm fast wie ein farbiger Animationsfilm, schließlich die ungemein beredten Doppelbelichtungen, die er später immer wieder aufgreift und die mir als das schönste, einfallsreichste Element seiner Grammatik erscheinen.) Zuvor hatte Troell als Volksschullehrer gearbeitet. Das war kein Zuckerschlecken war, wie „Ole dole doff“ (Raus bist du) zeigt, den er 1968 an seiner ehemaligen Arbeitsstelle drehte.
Ich hatte einen großartigen Lehrmeister, um Troells Kino (wieder) zu entdecken: Mike Leigh, der im Bonusmaterial der Criterion-Ausgabe von „Hier ist dein Leben“ einige wenige, wohlerwogene Sätze über das Langfilmdebüt sagt. Jedes war ein zuverlässiges Leitwort, um diesen und die weiteren Bildungsromane zu erkunden. Troell wirft einen mitten ins Geschehen hinein, er nimmt das Publikum nicht väterlich bei der Hand, erklärt nicht umständlich, wie der junge Protagonisten jeweils an diesen Ort und diesen Arbeitsplatz geraten ist. Ein Film über die Arbeit, sagt Leigh, der wirklich die Tätigkeit und das Handwerk zeigt. Fürwahr, mit einer gelassenen Euphorie. Philosophie und unbedingte Konkretion, anspruchsvoll und von zugänglicher Poesie. Die Ameisen-Im-Gras-Szene zeige die „untidyness of sex“, meint sein britischer Kollege und stellt abschließend fest, dass der Film eineiele Streiks und Arbeitskämpfe wie bei Widerberg. unglaubliche Galerie von Charakteren präsentiert. Tatsächlich begegnet der anfangs 14jährige Olof auf seinem Weg ins Leben keiner einzigen Figur, die uninteressant wäre.
Mit seiner Saga „Die Auswanderer“ und „Das neue Land“, die ihm den Weg nach Hollywood ebnete, und „Maria Larsson“ setzte ich den filmischen Unterricht in (süd-)schwedischer Sozialgeschichte fort. Es gibt mindestens so viele Arbeitskämpfe wie bei Widerberg. „Maria Larsson“ erzählt daneben eine Emanzipationsgeschichte, welche die Heldin durch eine Schule des Sehens schickt. Wiederum sind alle Figuren ungemein lebendig, wunderbar, was Troell in ihrer Nachbarschaft und anderen gesellschaftlichen Sphären aufschnappt. Ohne dass der Regisseur sich selbst in der Fotografin heimlich mitporträtieren würde, zeigt er, wie folgenreich das Festhalten dessen ist, welchen Wert die Abbildung des Lebens gewinnen kann.
Er macht ein Kino der Anschauung. Auf den Vorwurf, seine Emigranten-Saga sei episch, antwortete er: nein, lyrisch. Das ist bei ihm kein Gegensatz. Troell hat in den 60er Jahren zwar mit den Strömungen des schwedischen Kinos gebrochen (was heißt: sich abgekehrt vom dominierenden Bergman), sich aber sehr wohl auf die pastorale Tradition des Stummfilmkinos besonnen und bei der Inszenierung von Figuren, Gesichtern und Landschaften viel von Victor Sjöström gelernt. In meiner Erinnerung waren die Auswandererfilme übrigens zu einem einzigen Epos verschmolzen, ich hatte vergessen, dass jeder Teil geschlagene drei Stunden dauert. Was mich zu den Uhren bringt. Sie sind Requisiten von besonderem Gewicht. Ihre eigentliche Funktion ist nicht nachrangig, aber ihre symbolische Aufladung für die Charaktere wichtiger, etwa als Geschenk oder Vermächtnis. Wie bei den Insekten eine Frage der Vielfalt, aber vor allem: einzigartig schön in Szene gesetzt.
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