Kritik zu Das Glück zu leben – The Euphoria of Being

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2019
Original-Titel: 
The Euphoria of Being
Filmstart in Deutschland: 
30.09.2021
L: 
83 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Réka Szabó dokumentiert das eigene Tanztheaterprojekt mit der Holocaust-Überlebenden Éva Fahidi

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Auch in Ungarn gibt es die Stolpersteine von Gunter Demnig. Drei von ihnen werden vor dem ehemaligen Wohnhaus von Éva Fahidi und ihrer Familie in Debrecen angebracht und erinnern an die Eltern und die kleine Schwester, alle in Auschwitz ermordet. 49 Familienangehörige hat die Jüdin durch die Verfolgungen deutscher und ungarischer Nationalsozialisten verloren. Sie selbst wurde 1944 als 18-Jährige an der Rampe als Einzige von sechs weiblichen Verwandten nicht für die Gaskammer selektiert und überlebte Zwangsarbeit und die Flucht vom Todesmarsch. Zur Zeit des Drehs 2015 ist sie eine fast neunzig Jahre alte freundliche, weiß gelockte Dame. Weil ihre Augen zu schlecht seien, um sich selbst zu schminken, habe sie sich dauerhaft einen Lidstrich tätowieren lassen, erzählt sie zu Anfang des Films. Die Tätowierung der Häftlingsnummer im KZ blieb ihr wegen der überstürzten Hektik der ungarischen Deportationen erspart.

Éva ist geistig hellwach und auch körperlich erstaunlich beweglich. Das sehen wir bei den ersten Proben zu einer Aufführung, für die sie mit der sechzig Jahre jüngeren Tänzerin Emese Cuhorka ihre Erfahrungen aufspüren, ausagieren und zum Schluss auf die Bühne bringen soll. Die Idee zu diesem Projekt kam von der renommierten Budapester Choreographin Réka Szabó, die von Éva Fahidis Geschichte aus deren autobiografischem Buch »Die Seele der Dinge« erfahren hatte und auch Regisseurin dieses Dokumentarfilms ist. 

Dieser begleitet die Entwicklung der Produktion im Trialog zwischen den Frauen, die in einem mehrmonatigen Prozess spielerische freie Improvisationen zu einem Skript verdichten und sich bei der gemeinsamen Arbeit körperlich und emotional immer näher kommen. Ihre Traumata hatte Éva lange mit einem aktiven Leben in der Gegenwart überdeckt: »Ich darf nicht unglücklich sein, denn ich kann es nicht ändern.« Spät erst begann sie, sich als Zeitzeugin in der Gedenkarbeit und als Zeugin vor Gericht zu betätigen. Die kollektive künstlerische Praxis aktiviert bei ihr nun noch einmal ganz neue Schichten der eigenen Erinnerung. Doch auch für die junge Tänzerin ist die enge Zusammenarbeit eine intensive Erfahrung.

Ein heikler Komplex ist Évas Verhältnis zu dem im Lager bei Zwangsarbeit verstorbenen Vater. Sie wirft ihm vor, sich so sehr an seine materiellen Güter in Ungarn geklammert zu haben, dass die Familie die rechtzeitige Flucht aus dem Land versäumte. Diese behauptete Mitverantwortlichkeit für den Untergang der Familie klagt sie in einer eindrücklichen Rede gegen Ende des Films auch auf der Bühne an: ein starker Auftritt in einem starken Film, der auch diejenigen berühren – wenn auch nicht unbedingt bekehren – dürfte, die (wie die Rezensentin) mit dem Tanztheater eine eher problematische Beziehung haben. Der Wunsch nach einem positiven Nachklang ist bei der Schwere des Stoffs verständlich. Schade dennoch, dass die bedrohliche Zunahme des Antisemitismus in Ungarn und andernorts auf der Welt gar keine Rolle spielt. Es wäre die Chance, einen vielschichtigen Film um eine weitere Schicht zu bereichern.

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