Zwei Länder, ein System
Ein altes (gibt es eigentlich auch junge?) chinesisches Sprichwort lautet "Das Huhn töten, um den Affen zu erschrecken." Der Nutzen dieser Maßnahme mag sich nicht sofort erschließen – der Schaden, der so dem eigenen Haushalt entsteht, könnte eventuell ja größer sein -, aber gerade darin liegt ihre Weisheit.
Ohne Zweifel kennt auch Chinas Staatschef Xi Jinping diesen Sinnspruch. Insgeheim scheint er das Leitwort seiner Politik zu sein. Bei seinen Kampagnen gegen regionale Korruption und renitente Künstler hat es sich als eine zuverlässige Taktik erwiesen, die Regeln im Nebulösen zu belassen. Da die Strafe jeden treffen kann, hat auch jeder Grund, sich zu fürchten. Die staatliche Zensur beruht auf einem ähnlichen Mangel an Transparenz. Ihre Kriterien sind einschüchternd dehnbar. Das gilt inzwischen nicht mehr allein für Festlandchina, sondern ebenso für Hong Kong.
Das Sicherheitsgesetz, das im letzten Jahr infolge der pro-demokratischen Proteste erlassen wurde, ist in dieser Woche um einen Paragraphen ergänzt worden, der die dortige Filmindustrie mit tiefer Sorge erfüllt. Fortan kann die Freigabe eines Films verweigert werden, wenn er eine Bedrohung für die „Nationale Sicherheit“ darstellt. Diesen Tatbestand erfüllen beispielsweise die Anstiftung zu Subversion, Abspaltung, Terror, Wirtschaftsspionage sowie illegaler Einwanderung; ferner steht die Verherrlichung organisierter Kriminalität und die Kollaboration mit fremden Mächten unter Strafe. Vergehen werden mit bis zu drei Jahren Haft oder einer Million Hong Kong Dollars (ca.110000 Euro) geahndet. Das Gesetz zielt auf die Aufrechterhaltung von Wohlstand und Stabilität. Es richtete sich bisher wesentlich gegen Demonstrationen für individuelle Freiheitsrechte und öffentliche Gedenkfeiern zum Jahrestag des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens.
Durchgesetzt werden sollen die neuen Regeln durch ein lokales Büro zur Wahrung der Nationalen Sicherheit und eine spezielle Strafverfolgungsbehörde. Der Anschein der Unabhängigkeit Hong Kongs und des Prinzips „Ein Land, zwei Systeme“ bleiben mithin gewahrt. Verkündet hat die Maßnahme, wie "Variety" berichtet, der Hong Konger Handelsminister. Erste Reaktionen holte "Variety" bei Verleihern, Produzenten und Verbänden ein. So entsteht der Eindruck, das Gesetz habe vor allem wirtschaftliche Relevanz. Diese ist gewiss beträchtlich für eine Kinematografie, die früher bis zu 200 Filme jährlich produzierte. Filmkünstler meldeten sich bislang kaum zu Wort. Die Regisseurin Mabel Cheung immerhin berichtete von der Verunsicherung, die aktuell herrscht: In Gesprächen mit den Behörden sei bislang nicht zu erfahren gewesen, was von nun an erlaubt oder verboten sei.
Anderswo könnte man vermuten, das Gesetz sei mit heißer Nadel gestrickt. Aber das Fehlen konkreter Anhaltspunkte hat System. Es schafft Grauzonen. Zugleich könnte das Gesetz ganz umfassend ausgelegt werden. Der Phantasie der Zensoren ist keine Grenze gesetzt. Die Co-Produktion mit anderen Ländern beispielsweise könnte bereits ein Delikt darstellen. Die beiden Requisiteure jedenfalls, die 2018 verhaftet wurden, weil sie angeblich Falschgeld bei sich führten - tatsächlich stammte es aus dem Fundus des Krimis »Trevisa«, an dem sie mitwirkten -, müssten nach heutiger Rechtslage wohl mit einer härteren Strafe rechnen. Auf jeden Fall erhöht sich der Druck, den Peking längst auf die Hong Konger Filmproduktion sowie generell auf unabhängige Medien ausübt. "Variety" verweist auf den Dokumentarfilm »Inside the Red Brick Wall« (über die Proteste von 2019), der im Frühjahr zwar die Zensur passierte, dann jedoch vom Verleih zurückgezogen werden musste. Dennoch galt Hong Kong bislang als eine Bastion kreativer Freiheit, in der auch Filmemacher vom Festland Zuflucht suchten. Die Freigabe von Filmen wurde durch eine Klassifizierung nach Altersgruppen geregelt. Wird fortan (das Zensurgesetz soll endgültig im September in Kraft treten) ein Aufführungsverbot ausgesprochen, haben Produzenten und Verleiher kein Einspruchsrecht mehr gegen die Entscheidung.
Der Zusicherung des Handelsministers, die neuen Regelungen würden sich nicht rückwirkend auswirken, schenken die befragten Branchenvertreter wenig Vertrauen. Wäre dieses Misstrauen berechtigt, stünden Vergangenheit und Zukunft einer Kinematografie zur Disposition, deren Vitalität unlängst Georg Seeßlen in einem Essay für epd Film beschwor. Die Subversion ist traditionell eine ihrer Tugenden. Wobei die Bedrohung der Nationalen Sicherheit ja nicht ausschließlich politisch definiert ist. Die Kids-with-guns-Filme, die in den 1980ern zu ihrem Ruhm beitrugen, könnten nun in Ungnade fallen und Johnnie To müsste bangen, dass seine Triaden-Thriller nachträglich kriminalisiert werden. Die Liste ließe sich mühelos fortsetzen. Es kann jeden treffen.
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