Disney+: »Summer of Soul«
»Black Woodstock« sollte dieser Dokumentarfilm ursprünglich heißen, doch so naheliegend dieser Titel gewesen wäre, so unpassend ist er eben auch. Denn zwar fand das Harlem Culture Festival, um das es in »Summer of Soul« geht, im gleichen Sommer 1969 statt wie das legendäre dreitägige Konzert ein paar Stunden nördlich von New York City. Doch davon abgesehen halten sich die Gemeinsamkeiten in Grenzen: Während in Woodstock überwiegend weiße Künstler*innen vor einem ebensolchen Publikum auf der Bühne standen, traten in einem Park in Harlem sechs Wochen lang (und kostenfrei) schwarze Acts auf. Und während das eine Festival auf Anhieb einen festen Platz in der Musikgeschichte zugeschrieben bekam, verschwand das andere – außer in der Erinnerung der Anwesenden – schnell in der Versenkung.
Die eigens für eine potenzielle TV-Auswertung aufgezeichneten Mitschnitte dieses »Summer of Soul« fristeten lange ein unangetastetes Giftschrankdasein, nun stellen sie für Questlove, den man von der Band The Roots kennt, den Kern seines Regiedebüts dar. Und was für ein Fund dieses Material ist! Selbst ohne jede weitere Einordnung oder Bearbeitung wären die Auftritte von B.B. King, Stevie Wonder, Nina Simone, Sly and the Family Stone, Gladys Knight and the Pips und vielen mehr so packend, dass man sich locker anderthalb Stunden davon ansehen würde.
Doch Questlove begnügt sich nicht damit, bloß Konzertpassagen zu zeigen und darüber zu berichten, was der Konzertveranstalter Tony Lawrence damals alles in Bewegung setzte, um den damaligen New Yorker Bürgermeister John Lindsey, die Behörden und mit dem Maxwell Coffee House auch einen Sponsor von seiner Idee zu überzeugen. Ein Jahr nach schweren Unruhen infolge der Ermordung von Martin Luther King sollten die Massenveranstaltungen für einen friedlich-fröhlichen Sommer gerade für die schwarze Bevölkerung sorgen; für Sicherheit und Ordnung waren entsprechend weniger die Polizei als die Black Panthers zuständig. »Summer of Soul« ist viel mehr auch eine kleine Einführung in die Geschichte der afroamerikanischen Musik des 20. Jahrhunderts, nutzt der Film doch die Gespräche mit zahlreichen Künstler*innen für kleine, aufschlussreiche Exkurse zu so unterschiedlichen Genres wie Blues, Gospel oder Motown-Pop wie zu den gesellschaftspolitischen Umständen.
Die Emotionen brodeln leidenschaftlich in diesem mitreißenden Film, und das nicht nur in den eindrücklichen Performances auf der Bühne. Denn zu den Talking Heads, die Questlove hier zu Wort kommen lässt, gehören auch Zuschauer*innen, die damals live dabei waren und teilweise für den Konzertbesuch sogar die TV-Übertragung der Mondlandung sausen ließen. Die Freude darüber, dass der »Summer of Soul« nun nicht mehr bloß als ferne Erinnerung in ihren Köpfen existiert, sondern mit viel Verspätung noch mit dem Rest der Welt geteilt wird, ist ebenso unübersehbar wie ansteckend.
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