Die Sonne scheint auf jeden

Die Olympischen Spiele, die am Freitag beginnen, aber immer noch das Jahr 2020 in ihrem Namen tragen, standen bislang unter keinem guten Stern. Das ist vorsichtig ausgedrückt: So viele schlechte Sterne kann es an keinem Himmel geben. Aber dieser befindet sich über Japan, wo man höflich und zurückhaltend auftritt.

Andererseits: Kon Ichikawa wäre entsetzt, wie wenig bislang von Olympischem Geist zu spüren ist. Der 2008 verstorbene Regisseur verstand diesen genau, er hat ihn wachsam analysiert und prunkend gefeiert in dem Dokumentarfilm, den er 1964 über die ersten Spiele in Tokio drehte. Ichikawa wäre zweifellos empört über das autokratische Gebaren, welches das IOC heute an den Tag legt. Von den Dollarmilliarden, die es aufs Spiel setzt, hätte man zu seiner Zeit nicht einmal in Yen träumen können. Und es hätte ihn geschmerzt, dass nur 22 Prozent seiner Landsleute es begrüßen, dass die Spiele stattfinden. Was würde er heute filmen, Geisterspiele? Eine unter den vielen schwindelerregenden Zahlen, an denen Tokio 2020 gemessen werden wird, dürfte er jedoch verstehen: 70 Prozent der Sportler haben nur einmal die Chance, an Olympischen Spielen teilzunehmen.

Die Spiele fungieren stets als eine Visitenkarte des Landes, das sie ausrichtet. Sie sind Schaufenster des technischen und zivilisatorischen Fortschritts. 19 Jahre nach Ende des Weltkriegs wollte sich Japan als eine weltoffene Demokratie präsentieren, die einen ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung erlebte. Ichikawas Film fängt mit einem Bild der aufgehenden Sonne an, was durchaus patriotisch zu verstehen ist, durch den ersten Schnitt aber sogleich ausgehebelt wird: Die zweite Einstellung zeigt eine Abrissbirne und benennt den Preis, den die Gesellschaft für den erhofften Triumph zahlt. Tokio war in den Jahre zuvor eine einzige Baustelle. Die Slums wurden dem Erdboden gleichgemacht, um Platz für die Wettkampfarenen Stadien und das Olympische Dorf zu schaffen. Epochale Architektur entstand dabei, namentlich das von Kenzo Tange entworfene Yoyogi-Stadion. Ein neuer Hafen wurde gebaut, eine moderne Kanalisation angelegt, zwei neue U-Bahnen in Betrieb genommen. Auf den Shinkansen, den Hochgeschwindigkeitszug, war man besonders stolz.

Ichikawas »Tokio 1964« ist eine Visitenkarte in Cinemascope: eine Sternstunde des Kinos. Auf dem Youtube-Kanal des Olympischen Komitees ist eine auf knapp zwei Stunden gekürzte Fassung zu sehen. Ich schätze die schön ausgestattete DVD-Ausgabe der Criterion Collection sehr. Im letzten Jahr brachten sie den Film ernmeut auf Blu-ray mit überreichem Bonusmaterial heraus. Selbstverständlich ist es ein Propagandafilm, aber auf komplett andere Weise als Leni Riefenstahls Film über Berlin 1936. Die politischen Zwecke, für die er instrumentalisiert wurde, waren, neben der Rehabilitation Japans, Frieden und Völkerverständigung.

"Nie zuvor", heißt es eingangs im Kommentar, "betraten so viele Ausländer japanischen Boden." Welch umfassendes, tiefempfundenes Willkommen das Land ihnen bereitet, ist während der Eröffnungszeremonie hautnah zu spüren. Jede Delegation wird enthusiastisch begrüßt. Erst recht der ehemalige Kriegsgegner USA. Die Volksrepublik China ist nicht dabei, aber Taiwan nimmt teil. BRD und DDR sind, ein Oktroy des Olympischen Komitees, mit einer gemeinsamen Mannschaft vertreten ("Freundschaft im Sport, trotz ideologischer Gegensätze"), statt Nationalhymne wird bei ihren Siegen Beethovens "Ode an die Freude" gespielt. Einige Delegationen bestehen nur aus zwei, drei Athleten; die Republik Kongo existierte noch nicht, als die vorherigen Spiele in Rom ausgetragen wurden. Beim Auftreten dieser Außenseiter schwillt der Jubel noch einmal besonders an. Das Publikum ist ein Genie der Identifikation.

Es waren die ersten Spiele, die per Satellit weltweit übertragen (allerdings sieht man bei Ichikawa kaum je Fernsehteams) und zugleich die ersten, die in Asien ausgetragen wurden. Japan sollte sie bereits 1940 ausrichten. Der einzige Grund, aus dem Spiele der Neuzeit bis dahin abgesagt wurden, das betont der Kommentar mehrmals, waren die Weltkriege. Das Motto für 1964 lautet "Peace, Love and Valor". Bei Ichikawa gewinnt man den Eindruck, dass jede Übersetzung, die das Lexikon für den dritten Begriff anbietet, während dieser Spiele bekräftigt wird. Aber gehen wir der Reihe nach vor. Die alten Männer in den Zuschauerreihen, auf die Ichikawa anfangs einmal schneidet, sind zweifellos Veteranen des Pazifikkriegs. Als die Spiele mit Salutschüssen eröffnet werden, erschrecken die Kinder im Publikum. Einigen Amerikanerinnen machen die Friedenstauben Angst, die daraufhin emporfliegen. Und die Liebe? Die gilt allen, nicht nur den Medaillengewinnern.

Ichikawa empfahl sich aus mehreren Gründen für die, dieses Fest auf die Leinwand zu bringen. Kraftanstrengungen konnte er meisterlich in Szene setzen, zumal verzweifelte in seinen Kriegsfilmen »Die Harfe von Burma« und »Nobi«. Darin erzählte er schonungslos vom Ende ziviler Tugenden, nun konnte er deren Wiedergeburt feiern. Im Jahr zuvor hatte er »Alone Across the Pacific« gedreht, der von einem mulmig autarken Jugendlichen handelt, der allein mit einer kleinen Jacht von Osaka nach San Francisco segelt. Kritiker warfen ihm gern vor, er sei ein Eklektiker. Das sollte sich bei »Tokio 1964« als Vorzug erweisen. Er inszeniert jede Disziplin in einem eigenen Stil (manchmal auch mehreren), greift auf jedes Mittel zurück, das ihm zu Gebote steht. Er wechselt zwischen Farbe und Schwarzweiß, oft ganz brüsk, setzt Zeitlupe und Freeze frame ein, zuweilen hebt er entscheidende Momente hervor, indem er den Ton fortlässt. Die Kraftakte der Gewichtheber filmt er nicht nur, sondern interpretiert sie auch in Aquarellen. Die Anmut einer Barren-Turnerin feiert er in einer lyrischen Sequenz, die sich selbst genügt: kein Wettstreit, nur Schauspiel. Diese Stilwechsel haben natürlich den Vorteil, abwechslungsreich zu sein. Sie setzen die Vielgestaltigkeit der Olympischen Disziplinen in ihr Recht. Vor allem jedoch spiegeln sie individuelle, einzigartige Erfahrungen wider. Ichikawa verlangte, dass seine Kameraleute extrem lange Brennweiten benutzten (einige Objektive wurden extra für den Film konstruiert), damit sie den Sportlern ganz nahe kamen. Er wollte ihre Augen sehen.

Das Olympische Komitee hatte sich eigentlich Akira Kurosawa als Regisseur gewünscht, aber der bestand auf dem Final Cut. Damit ersparte er sich eine Menge Ärger. Ichikawas Auftraggeber waren ganz und gar nicht zufrieden mit der ersten, dreistündigen Schnittfassung, die er ablieferte. Die Abrissbirne kam nicht gut an. Das Nationale Komitee forderte ihn auf, einige Sequenzen neu zu drehen, namentlich die Abschlusszeremonie, die völlig aus dem Ruder ging, weil sich die Delegationen nicht an die geplante Reihenfolge hielten, sondern einfach miteinander feiern wollten. "Bedauerlicherweise ist das schwer möglich", erwiderte der Regisseur, "denn die Darsteller sind alle schon abgereist."

Lokalpolitiker wiederum ärgerten sich, weil zu wenig von der Stadt zu sehen sei, die sich doch von ihrer besten Seite präsentiert hatte. Vertreter der Rechten fanden, Ichikawa zeige zu wenig heimische Siege, die Linke beklagte, es seien zu viele. (Tatsächlich holen die japanischen Athleten ziemlich auf, sobald Ichikawa zu den Hallensportarten kommt.) Auch die Vorführung im Kaiserpalast war ein Fiasko. Der Regisseur schnitt den Film mehrmals um; seine Kürzungen kamen etwas besser an. Am Ende lief er 1965 dann aber doch in einer einigermaßen integralen Fassung und hatte 18 Millionen Zuschauer. Dieser Kassenrekord war nicht zuletzt den vielen Schulklassen geschuldet, die sich den Film ansehen durften (oder mussten). Die Debatten gingen weiter. Kritiker stritten erbittert darüber, ob ein Dokumentarfilm denn Kunst sein dürfe.

Heute erscheinen die Vorwürfe kleinlich, vor allem jene, die ein Zuwenig beklagen. »Tokio 1964« ist einer der welthaltigsten Filme, die man sich vorstellen kann. Er konzentriert sich auf Tausend Dinge. Kein Aspekt ist ihm nebensächlich. Er interessiert sich eben nicht nur für die sportlichen Wettbewerb, ihn fasziniert auch das Davor und das Danach. Etwa, wie Startblöcke in die Bahnen gehauen oder Patronen für den Startschuss geladen werden. Die Sonne scheint auf jeden, nicht nur auf Sieger und Verlierer. Ichikawa nimmt die zahl-und namenlosen Helfer in den Blick, die für einen reibungslosen Ablauf sorgen sollen: Auch sie nehmen an den Spielen teil. Sein Film will eine riesige Maschinerie in den Griff bekommen; er fühlt sich einer unglaublichen Vielzahl von Blickwinkeln verpflichtet. Aber im Kern filmt er die Spiele als einen einzigen Organismus. Das Publikum spielt mit, es wird eins mit dem Schauspiel. Gewiss, mitunter wirft er satirische Blicke auf die Zuschauerbänke (die Montage der Männer mit Doppelkinn), aber die frenetische Begeisterung leistet einen enormen atmosphärischen Beitrag, als Ansporn oder Aufmunterung. Die Japaner applaudieren auch denen, die als letzte ins Ziel kommen. Drei Stunden lang birst »Tokio 1964« vor Energie.

Nach der Hälfte setzt er eine Pause, wie sie bei den Epen der 60er Jahre üblich war. Danach holt Ichikawa tief Luft. Er fängt noch einmal von vorn an, er stimmt sein Publikum erneut und diesmal ganz anders ein. Der zweite Teil hebt intim an, indem er die Perspektive eines der zwei Athleten aus dem Tschad (noch ein Land, dass es vier Jahre zuvor nicht gab) wählt. Wie er dessen Impressionen vom Leben im Olympischen Dorf und dem Wettkampf filmt, ist fast ein eigener, in sich geschlossener Kurzfilm. Der Sportler trägt keinen Sieg davon, aber er wird zufrieden in seine Heimat zurückkehren. Pause ist ein gutes Stichwort, denn auch dieser Text verträgt eine.

 

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