Internationales Fantastic Film Festival Neuchâtel
»The Feast« (Regie: Lee Haven Jones)
Das Neuchâtel International Fantastic Film Festival, »The Swiss Event for Fantastic Film, Asian Cinema & Digital Creation«, zeigte in seinem internationalen Wettbewerb in diesem Jahr 14 Filme
Natürlich hätte man sich die Jubiläumsausgabe anders gewünscht. Das Neuchâtel International Fantastic Film Festival (NIFFF) hätte für seine zwanzigste Ausgabe mehr Filmschaffende vor Ort, mehr Filme und einige Specials präsentiert - aber unter Pandemiebedingungen, mit Abstandsregeln und entsprechend reduzierter Platzzahl in den Kinos, haben die Veranstalter das Beste daraus gemacht. Neun Tage lang stand die Stadt Neuchâtel am Ufer des gleichnamigen Sees in der Schweiz einmal mehr im Zeichen des fantastischen Films. »The Swiss Event for Fantastic Film, Asian Cinema & Digital Creation«, wie der Titelzusatz lautet, präsentierte in diesem Jahr 14 Filme im internationalen Wettbewerb, sechsmal New Cinema from Asia, viermal Films of the Third Kind (zwischen Fantastischem und Thriller), sechs Ultra Movies (sogenanntes »Mitternachtskino«), drei Kurzfilmprogramme, mehrere Sonderprogramme, sowie zwölf Gesprächsrunden, in denen es unter anderem um den fantastischen Film in der Schweiz und die Entwicklung der Effekte in den »Godzilla«-Filmen, von analog zu digital, ging. 15 der Filme wurden auch online angeboten, was 2000mal genutzt wurde bei insgesamt über 26.000 Zuschauer*innen.
Wie bei den kürzlich in mehreren deutschen Großstädten gezeigten »Fantasy Film Fest Nights xl« war auch in Neuchâtel eine Tendenz zum Kammerspiel erkennbar, beflügelt sicherlich auch durch die Pandemie, während der Filme mit überschaubaren Schauplätzen, Cast und Crews leichter zu realisieren waren. So erwies sich der Schweizer Film »Méandre« von Mathieu Turi als intelligentere Variante der »Saw«-Reihe, als eine Frau in einem Lüftungskanal aufwacht, der mit zahlreichen tödlichen Fallen gespickt ist. Auch sie hat, wie die »Saw«-Protagonisten, Schuld auf sich geladen.
Frappierend waren die Parallelen zwischen zwei Filmen, die man unter das Subgenre »Die Natur schlägt zurück« subsummieren könnte. In beiden begeben sich die Protagonisten in die Natur und begegnen Menschen, die von sich behaupten, sie würden im Einklang mit der Natur sein – jedes Mal ehemalige Wissenschaftler, die jetzt von einem ‚ganzheitlichen‘ Verständnis für die Natur reden und bereit sind, sich ihr zu unterwerfen, auch bereit sind, Andersdenkende der Natur zu opfern, sie zu töten. Ben Wheatleys »In the Earth« beginnt wie ein Pandemiefilm, der Wissenschaftler, der in einer einsamen britischen Landschaft Forschungen anstellen soll, wird erst einmal desinfiziert und selber Objekt einer Untersuchung. Ohne die Rangerin, die ihn führt, wäre er in dieser Welt nicht überlebensfähig, das merken sie, wenn sie auf einen Einsiedler treffen, der seine eigene Agenda hat, und später auf eine Wissenschaftlerin, deren Forscherinteresse an der Natur mittlerweile zu einer Obsession geworden ist. In Jaco Brouwers südafrikanischem »Gaia« ist es eine Rangerin, die bei einer Routinekontrolle auf einen verwilderten Mann und seinen Sohn trifft, die sich zunächst als Retter vor seltsamen Kreaturen erweisen, zu denen sie allerdings ein komplexes Verhältnis haben, wie sich später herausstellt. Beide Filme überzeugen, weil sie die Natur nicht einfach als feindlich zeichnen, sondern die Frage nach dem angemessenen Verhalten von Menschen gegenüber ihr aufwerfen. Beide haben besonders starke Momente, wenn sich die Menschen der Natur hingeben (beide Male unter dem Einfluss halluzinogener Pilze).
Ist es in Ben Wheatleys Film ein altes Buch, das die Verbindung zu mittelalterlichen Legenden herstellt, so ist es im walisischen »The Feast« (Regie: Lee Haven Jones) eine Person (deren Geheimnis erst spät gelüftet wird), durch die die Verbindung zu Naturmythen hergestellt wird: die kurzfristig für ein Abendessen als Hilfskraft engagierte junge Frau erscheint zu Beginn nicht weniger verhaltensauffällig als die Mitglieder der snobistischen Familie, die hier Nachbarn und einen Geschäftspartner eingeladen hat. Der Film (komplett in walisischer Sprache gedreht) wird zunehmend bizarrer, am Ende darf man vermuten, dass es sich bei der jungen Frau um die Reinkarnation eines Waldgeistes handelt, der Rache nimmt an all jenen, die im Umgang mit anderen Menschen gefrevelt haben, ebenso wie an denen, die die Natur rücksichtslos ausbeuten, in diesem Fall geht es um Ölvorräte unter dem Land.
Was die Geister der Verstorbenen, die die Lebenden in einem ungarischen Dorf kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs (in Peter Bergendys »Post Mortem«) terrorisieren, bleibt unklar, sie setzen die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft, lassen sie sich in die Luft erheben oder aber hetzen sie mit rasender Geschwindigkeit durch Innenraume und über die Straßen - am Ende ist ihnen nur mit Feuer und Wasser beizukommen, auch der philippinische »Midnight in a perfect world« (R: Dodo Dayao) bietet keine Erklärung für die nächtlichen Stromausfälle in der Hauptstadt Manila und den nachfolgenden Verlust des Orientierungssinns bei den Betroffenen.
Während der brasilianische »King Car« (R: Renata Pinheiro) als Variante von John Carpenters »Christine« beginnt, entwickelt er sich nach und nach zu einer ökologischen Parabel über Klimabewusstsein und die (erotische) Attraktion von Autos, die dem entgegensteht. Der US-Film »Lapsis« von Noah Hutton, Eröffnungsfilm des Festivals, dagegen verbindet eine (allzu) nahe Zukunft, in der ein Konzern die Menschen unter seine Kontrolle zu bringen versucht, mit low-tech: wer bereit ist, tagelang eine Kabeltrommel hinter sich herzuziehen und Kabel in entlegenen Waldgebieten zu verlegen, dem winken hohe Erfolgsprämien. Dafür muss er eine fortwährende Überwachung in Kauf nehmen, jedes Verlassen des vorgeschriebenen Weges wird sofort mit Warnungen aus dem Tracker quittiert. Doch dann erfährt der Protagonist, der diese Tätigkeit nur angenommen hat, um einen Krankenhausaufenthalt seines jüngeren Bruders finanzieren zu können, von einer Widerstandsbewegung. »Lapsis« erwies sich als ungewöhnlicher Film, als immer wieder ins Satirische umkippender Blick auf eine menschenfeindliche Arbeitswelt. Er wurde am Ende nicht unverdient mit dem Hauptpreis, dotiert mit 10.000 Schweizer Franken, ausgezeichnet, während »Tides«, die deutsch-schweizer Koproduktion des gebürtigen Schweizers und Absolventen der HFF München Tim Fehlbaum, neben dem Publikumspreis auch noch den Preis für die beste Ausstattung erhielt. Seine Bilder einer unwirtlichen Erde, auf der Ebbe und Flut das Leben der Bewohner regeln, erinnerten - nach den Überschwemmungen der letzten Woche - fatal an die Fernsehbilder aus der deutschen Wirklichkeit.
Die schon im Festivaltitelzusatz annoncierten asiatischen Filme boten gleichermaßen furiose Action als auch Komik - letztere eher gewöhnungsbedürftig, sei es nun im koreanischen »OK! Madam«, in der sich eine biedere Haus- und Geschäftsfrau als ehemalige Agentin herausstellt, die jetzt eine Flugzeugentführung vereiteln muss, oder im taiwanesischen »Get the Hell Out«, in dem sich Parlamentsabgeordnete in Zombies verwandeln. Gradlinige Action mit komplexen männlichen Hauptfiguren dagegen boten der japanische »The Fable: The Killer who doesn't kill« mit einem stoischen einstigen Auftragskiller (samt Verbeugung vor Melvilles »Le Samourai«), der in seinen alten Beruf zurückgezwungen wird, und »Shock Wave 2« (R: Herman Yau) aus Hongkong um einen Bombenentschärfer, der zum Terroristen wird, aber am Ende seine Erlösung findet. Einige der Filme wird man vermutlich im September beim Fantasy Film Fest sehen können.
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