Zusammen ist man weniger allein
Ob Thomas Vinterberg in seiner Kindheit wohl Mitglied einer Bande war? Seine Filme lassen es mich stark vermuten. Andererseits ist er in einer Kommune aufgewachsen. Da gab es also im Prinzip schon gemeinschaftlichen Druck genug. Aber vielleicht war doch ein Gegengewicht nötig zur vernünftigen Utopie der Erwachsenen?
Wahrscheinlich ist es angebracht, dieses schöne Wort erst einmal gegen spätere Konnotationen in Schutz nehmen. Damals hatte "Bande" noch einen unschuldigeren Klang. Von Gangs war noch nicht die Rede. Das unterstelle ich mal, da der Regisseur und ich fast der gleichen Generation angehören. Die Streiche, die wir ausheckten, hatten höchstens in Ausnahmefällen strafrechtliche Relevanz. Eine Verschwörung gegen die Welt stellten diese Unternehmungen gleichwohl da. Jedenfalls mussten sie verheimlicht werden. Ähnliches beobachte ich übrigens heute bei den Kindern meiner Nachbarn auf dem Land: Sie verbünden sich, um die Welt gründlicher entdecken zu können. Jedoch scheinen mir ihre Zusammenschlüsse spontaner und flexibler zu sein, ab und zu sind auch Mädchen zugelassen. Die Bandenbildung ist ohnehin keine Jungendomäne mehr, wie der feministische Schlachtruf bekräftigt. Es klingt romantischer als Netzwerke und kalkuliert vergnügt mit dem Ruch krimineller Energie: Es gilt, das zu erbeuten, was einem zusteht.
Das Wort kam mir in den Sinn bei einem keck-traurigen Dialog, der in Dominik Grafs Kästner-Interpretation »Fabian« besiegelt, dass das Paar womöglich doch kein so gutes Gespann ist. "Ich dachte, wir wären eine Bande", sagt Saskia Rosendahl zu Tom Schilling, der darauf niederschmetternd erwidert: "Zwei sind noch keine Bande." Darstellerin und Darsteller wirken noch jung genug, dass man ihnen den Gebrauch der Vokabel abnimmt; das Verliebtsein ist eben auch eine Verschwörung gegen die Zeit. Vinterbergs Fokus liegt freilich anderswo. Im Interview mit Thomas Abeltshauser, das zu einem früher geplanten Starttermin von »Der Rausch« in epd Film erschien, sagt er: "Ich fühle mich von Gruppen angezogen, die gemeinsam und solidarisch das Unmögliche versuchen." Das passt auf seinen neuen Film, aber rasch darf man dabei auch an »Die Kommune« denken sowie den der Klub der Außenseiter in »Dear Wendy«, der sich "Dandies" nennt und aus pazifistischen Waffennarren rekrutiert wird.
»Der Rausch« bestätigt für mich, dass der dänische Regisseur einer der beachtlichsten Ensemblefilmer der Gegenwart ist. Die Filmgeschichte ist nicht arm, aber eben auch nicht übermäßig reich an ihnen. Im klassischen Hollywoodkino denkt man sofort an Ford und Hawks (wenngleich die Gemeinschaften bei ihnen unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen stehen), später Otto Preminger (wenn er Institutionen porträtiert), im New Hollywood sodann an Robert Altman. In die behagliche Tradition der britischen Ensemblekomödie schlug Richard Lester satirische Widerhaken, Claude Sautet diente der chorale Film als Rahmen für schonungslose Generationenporträts (in der Folge häufig imitiert, aber von Mal zu Mal versöhnlicher), auch Jabac (also Agnès Jaoui & Jean-Pierre Bacri), Cédric Klapisch sowie Arnaud Desplechin filmen gern kollektive Erfahrungen. Der Kanadier Denys Arcand hat wenigstens zwei großartige Ensembles inszeniert, Johnnie To wiederum macht das in Hongkong drei Mal im Jahr.
Bei Vinterberg ist ein Bedürfnis zu spüren, eine stock company von Schauspielern um sich zu scharen. (Erstaunlich, aber erst in diesem Moment fällt mir Wes Anderson ein mein Zögern wird seine Gründe haben.) Er legt Wert auf Familiarität, in der Zusammenarbeit wie in der Wahrnehmung des Publikums. Mit der Viererbande, die in „Der Rausch“ ihr kurioses Erweckungserlebnis hat, sind mithin beide Seiten vertraut. Sie agierte während der Dreharbeiten übrigens auch als Kollektiv und beratschlagte gemeinsam, wie ihr Regisseur nach dem furchtbaren Unfalltod seiner Tochter, zu unterstützen sei. Das Schöne an seinem neuen Film ist, dass die Lehrer zwar seit vielen Jahren befreundet sind, sich aber als Kreis neu gründen. Sie entwickeln für ihr verstohlenes Experiment ein eigentümliches Regelwerk und einen eigenen Jargon ("Da geht noch mehr!"). Gründet sich diese Bande, um für sich zu stehen – oder um sich gegen die entfremdete Welt zu behaupten? Das Ideal der Gemeinschaft liegt für Vinterberg darin, dass sie dem Individuum das Denken, Entscheiden und Fühlen nicht abnimmt. Die Zugehörigkeit zur Bande ist eine weitere Identität. Jeder behält die eigene Kontur, was bereits für Kinderbanden wichtig und auch eine Frage der Anzahl ist. Sie muss übersichtlich bleiben. Größeren Gemeinschaften steht Vinterberg skeptisch gegenüber. Die Gäste in »Das Fest« bilden kein Kollektiv, das Personal hingegen schon. Das ist weniger denkfaul bzw. politisch korrekt, als man meint. Die Angestellten üben tatkräftige Solidarität gegenüber Ulrich Thomsen und der Wahrheit. Die Festgesellschaft ist eine konservative Manövriermasse, die existiert und sich nicht bildet. Sie ist berechenbar in ihren Ritualen und ihrem Rassismus; den sozialen Ausschluss des Patriarchen am Ende mag man schwerlich als Katharsis empfinden. Die Gemeinde in »Die Jagd« stellt ihre hysterische Umkehrung dar. Es manifestiert sich eine Tyrannei der Wohlmeinenden, die zur Ächtung Mads Mikkelsens führt. Bemerkenswert finde ich, wie häufig Vinterberg hierbei zwei unterschiedliche Reaktionen gleichzeitig in den Blick nimmt. (»Der Rausch« knüpft in einigen Szenen unmittelbar daran an.) Die Titel stiftende Kommune in Vinterbergs Film von 2016 ist ein Zwischending. Sie sieht ihren Zusammenhalt durch die Eifersucht Trine Dyrkolms bedroht; selbst deren Tochter stimmt für ihren Auszug aus der Gemeinschaft.
Der Blick der Kinder ist wichtig in diesen Gemeinschaften, etwa die Perspektive des Sohns, um dessen Zuneigung Mikkelsen in »Die Jagd« kämpft. Ähnliches gilt für Mathhias Schoenarts Sohn in »Kursk«. Darin geht es streng genommen um zwei Gemeinschaften, die räumlich getrennt sind, aber zusammenhalten: die Besatzung des U-Boots und ihre Angehörigen. Großartig, wie sich in der Siedlung, in der alle wohnen, die daheim gebliebenen Frauen die Nachrichten vom Stand der Bergung des havarierten Boots zurufen! Auch an Bord entsteht ein kollektiver Echoraum der Reaktionen, der geteilten Verzweiflung. Man erzählt sich Witze, deren Pointe jeder schon kennt. Vinterberg schweißt diese Gemeinschaft so eng zusammen, dass ich bis zum Ende die Hoffnung auf ihre Rettung nicht aufgeben wollte. Dabei war mir ihr Schicksal natürlich bekannt (übrigens ein absolut ungewöhnlicher Ausgang für einen Katastrophenfilm). Aber mit einer Gruppe zu fiebern, die das Unmögliche versucht, ist ein mächtiger Impuls im Kino.
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