Angestaute Daseinslust
Die Filmlawine bricht los. Morgen laufen vorsichtshalber gleich 25 Filme an, in den folgenden Wochen werden es selten weniger als 15 Titel sein. Auf dem Startplan des 1. Juli ist für alle etwas dabei: als hätten nicht komplizierte Umstände, sondern zuversichtliche Kinobesitzer das Angebot kuratiert.
Auf einige der Filme freue ich mich, auf andere bin ich gespannt. Vorn auf meiner Liste steht »Vor mir der Süden«, Pepe Danquarts dokumentarische Reise auf den Spuren Pier Paolo Pasolinis. Im Filmtitel schwingt Sehnsucht mit, aber sie wird ihre Widerhaken haben. Aus Nostalgie hat sich Danquart vermutlich nicht ins Schlepptau des Italieners begeben. Dessen Projekt war nicht touristisch, obwohl es sich mit dem Tourismus beschäftigt.
Von Juni bis August 1959 sollte der spätere Filmregisseur und damals bereits namhafte Schriftsteller für die Mailänder Illustrierte "Successo" (Erfolg) untersuchen, wie sich die Urlaubsgewohnheiten der Italiener auf dem Höhepunkt des Booms verändert hatten. Sein Reisebericht liegt auf Deutsch seit längerer Zeit in Buchform unter dem Titel "Die lange Straße aus Sand" vor. Meine Ausgabe ist sehr schön, sie ist 2015 zum 40. Todestag Pasolinis bei "corso" erschienen; das kundige Nachwort stammt von Wolfram Schütte.
Von Ventimiglia bis Triest bereiste er in einem Fiat Millecento (den ihm Federico Fellini für die Drehbucharbeit an »Die Nächte der Cabiria« geschenkt hatte) die gesamte Küste der Halbinsel, an deren Stränden die Sommerfrische dank der neugewonnenen Mobilität zu einer Massenbewegung geworden war. Autolawinen gab es auch damals schon. Allerorten begegnete er übrigens deutschen Touristen. Für die Zeitschrift war die Reportage gewiss ein willkommener Vorwand, ihren Lesern viele Bikinischönheiten zu präsentieren. Pasolini hatte Anderes im Sinn bei seiner sommerlichen Feldforschung. Die vorzüglichen Illustrationen der Buchfassung tragen deren ethnographischer Ambition Rechnung: Pittoreske Veduten wechseln sich mit scharfsichtigem Fotojournalismus ab.
Pasolinis Blick ist stets zweigeteilt. Sein Argwohn gegenüber den Modeerscheinungen des Konsumzeitalters ist, wie in seinen späteren Filmen, grundiert in der Beschwörung der prunkenden künstlerischen Traditionen Italiens. Die historische Baukunst, zumal des Barocks, gewinnt in seinen Augen eine Anmutung von Fleischlichkeit, welche ihn indes nicht über die architektonischen Verwüstungen der Moderne hinwegtrösten kann. Er wandelt auf den Spuren Boccaccios. Aber seine Entdeckerfreude ist zu groß und vorurteilslos, als dass ihm nur die Vulgarität der Gegenwart ins Auge fiele. Der "Dämon des Reisens", der ihn nach Süden drängt – erst nachdem er Ostia hinter sich gelassen hat, notiert er: "Das Abenteuer beginnt." -, entpuppt sich als eine Wissbegier, das Schöne in all seinen Formen zu entdecken. Immer wieder begeistert ihn das Schauspiel, wie sich angestaute Daseinslust entfesselt. Die Ferien, erinnert er sich, waren für ihn als Kind eine Lebenszeit voller rätselhafter Botschaften und Verheißung.
Die knappe, ellipsenreiche Form der Reportage kommt dieser Chronik einer vieldeutigen Glückserfahrung entgegen. Pasolinis Reise ist eine Folge mannigfacher Verliebtheiten in Orte, die von kurzen Momenten der Entzauberung durchbrochen wird. Sein Blick auf die Menschen ist gewährend, wie er es später in seiner filmischen Sittenstudie »Gastmahl der Liebe« sein wird. Er wahrt eine gewisse Schicklichkeit in seinen Beobachtungen und Urteilen; immerhin erledigt er eine Auftragsarbeit. Kurze Aperçus genügen ihm, um soziale Schicksale vorauszuahnen. Sein Unbehagen an den kläglichen Posen des kleinbürgerlichen Hedonismus‘ weiß er in wenigen, entlarvenden Adjektiven gut aufgehoben. Der Rhythmus seiner Prosa wird diktiert von einer Ungeduld, die gar nicht zu passen scheint zum Erzählgestus des späteren Regisseurs, der seiner Kamera regelmäßig das Innehalten, Verweilen auf einem Ort oder Gesicht verordnen soll. In forschem, atemlosem Tempo erkundet er Landschaften und Städte: getrieben vom einzigartigen Hochgefühl des Alleinreisenden, der trunken ist vom Überfluss der Eindrücke.
Die Distanz des Journalisten zu seinem Gegenstand verbietet ihm den Müßiggang. Dazu ist schon das Reisetempo allzu hastig, das er sich auferlegt hat. Das wird nicht unbedingt im Sinne seines Auftraggebers gewesen sein; auch wenn es dessen Spesenkonto entlastete. Seine Reise geht schon fast ihrem Ende entgegen, als ihm auffällt, dass er etwas Wesentliches versäumt hat. In den letzten drei Monaten hat er zwar zahllose Strände besucht, aber ist noch immer weiß wie ein Joghurt. Als er sich nun zum Sonnenbaden ans Meer legt, kommt es ihm vor, als erfülle er eine lästige Verpflichtung. Den Verlockungen des Nichtstun hat er bis dahin lustvoll widerstanden.
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